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Foren => Mikrofoto-Forum => Thema gestartet von: Martin Kreutz in Juni 22, 2014, 20:29:21 NACHMITTAGS

Titel: Trachelophyllum sigmoides- Ein Ciliat im Kettenhemd
Beitrag von: Martin Kreutz in Juni 22, 2014, 20:29:21 NACHMITTAGS
Liebes Forum,

vor wenigen Wochen hatte ich eine Wiederbegegnung mit dem haptoriden Ciliaten Trachelophyllum sigmoides. Für alle, die noch nicht das Glück hatten, möchte ich dieses fotogene Art hier vorstellen.

Trachelophyllum ist ein äußerst stattlicher Ciliat und erreicht meistens eine Länge von 200 – 500 µm. Die Form ist sigmoid (wie der Name sagt) und er ist lateral (nicht dorso-ventral) stark abgeflacht, also blattförmig. D.h., dort hin, wo die Mundöffnung zeigt, ist ventral. Darüber hinaus besitzt er ein hochbrechendes Plasma, was ihn zu einem sehr fotogenen Objekt macht. Die folgende Aufnahme zeigt ein voll elongiertes Exemplar, welches dadurch eine Gesamtlänge von 546 µm erreichte:

(https://www.mikroskopie-forum.de/pictures004/152491_46284693.jpg)

Obwohl viele Exemplare Zoochlorellen tragen, findet man auch völlig transparente Exemplare, in den sich das Innenleben sehr gut erkennen lässt. Wie bei allen haptoriden Cilaten, ist die Mundöffnung mit einem ,,Spagetti-Bündel" von Extrusomen zum Beutefang ausgestattet. Er besitzt zwei klar getrennte Makronuklei und die kontraktile Vakuole sitzt terminal. Ein sehr bemerkenswertes Merkmal ist jedoch die ca. 6 µm dicke Schleimschicht, die den Ciliaten fast komplett umhüllt.

(https://www.mikroskopie-forum.de/pictures004/152491_34812072.jpg)
Ma = Makronuklei
EX = Extrusome
KV = kontraktile Vakuole
SH = Schleimhülle

Nach Kahl besitzt dieser Ciliat eine Dorsalbürste aus 2 Reihen. Um diese zu sehen, muss man dien Ciliaten auf die Bauchseite (ventral) drehen, in diesem Falle die Schmalseite zu welcher die Mundöffnung zeigt. Dies gelingt nur bei gepressten Exemplaren unter dem Deckglas:

(https://www.mikroskopie-forum.de/pictures004/152491_12978256.jpg)
DB = Dorsalbürste

Wenn man Trachelophyllum bei höherer Vergrößerung untersucht, erkennt man auch die Mikronuklei, die den Makronuklei angelagert sind. Kahl spricht von nur einem Mikronukleus pro Makronukleus, aber ich habe auch oft Exemplare mit zweien pro Makronukleus gefunden. Bei dieser Vergrößerung erkennt man auch deutlicher, dass die oben erwähnte Schleimschicht (Kahl spricht von einer Gallerte) offensichtlich heterogen zusammengesetzt ist. Sie ist ca. 6 µm dick:

(https://www.mikroskopie-forum.de/pictures004/152491_10433449.jpg)
Mi = Mikronuklei
MA = Makronukleus
SH = Schleimhülle

Nicht der ganze Ciliat ist mit dieser Schleimhülle umkleidet. Die Mundöffnung ist ausgespart:

(https://www.mikroskopie-forum.de/pictures004/152491_50493309.jpg)
Pfeilköpfe = Aussparung Schleimhülle
MO = Mundöffnung
ZO = Zoochlorellen
EX = Extrusome

Legt man den Fokus aber nun nicht lateral, auf die ,,Kante" des Ciliaten, sondern betrachtet die Oberfläche dieser heterogen erscheinenden Schleimschicht, erkennt man ringförmige, perlenkettenartige Strukturen, mit einem Durchmesser von ca. 2 – 3 µm:

(https://www.mikroskopie-forum.de/pictures004/152491_56313133.jpg)
Pfeile = Schuppen

Diese Strukturen sind eine Herausforderung an die lichtmikroskopische Auflösung. Einige high resolution Spezialisten hier im Forum hätten da eventuell noch mehr rausholen können. Allerdings hätte auch das wahrscheinlich nicht die wahre, dreidimensionale Struktur dieser ,,Ringkörper" gezeigt. Erst im REM zeigt sich deren Struktur. Das folgende Foto von Wilhelm Foissner zeigt, dass es sich um pilzförmige, filigrane Strukturen handelt:

(https://www.mikroskopie-forum.de/pictures004/152491_3211171.jpg)

Über den Sinn und Zweck dieser Strukturen darf spekuliert werden. Einige andere Gattungen, wie Spetazoon, Bilamellophrya, Ileonema  oder Lepidotrachelophyllum tragen auch solch eine Schleimhülle mit Schuppen (scales). Die Form dieser Schuppen ist artspezifisch und ein Bestimmungsmerkmal. Da meines Wissens nur haptoride Ciliaten diese Schuppenschicht besitzen, welche ihre Beute durch ausgestoßene Extrusome machen, kommt nach meiner Ansicht nach ein Tarn-Mechanismus in Frage, wodurch eine chemotaktische Erkennung des ,,Feindes" durch die Beuteorganismen verhindert wird. Vielleicht auch ein Verletzungsschutz, ähnlich einem Kettenhemd, vor eventuellen Verteidigungsreaktionen der Beuteorganismen. Leider weiß man zu den tatsächlichen Beuteorganismen von Trachelophyllum sigmoides nichts. Auch ich habe diese Art nie fressen sehen, obwohl ich schon viele Exemplare gesehen habe. Bei diesen Gelegenheiten konnte ich jedoch eine Teilung beobachten:

(https://www.mikroskopie-forum.de/pictures004/152491_51704467.jpg)
Ma = Makronuklei
Pfeilkopf: Mundbereich

Bei der Teilung tritt eine Situation auf, bei der das Tochterindividuum die Mundöffnung und den gesamten Oralapparat neu bilden muss. Wie man auf dem Bild oben erkennt, hat das Tochterindividuum noch kein Mundorganell gebildet. Die Bildung des Mundorganells von verschiedenen Ciliaten ist Gegenstand zahlreicher Untersuchungen. Bei vielen Ciliaten wird der Mundapparat vorher dupliziert und dann an die Tochterzelle übergeben (z.B. bei Nassula). Bei Trachelophyllum sigmoides scheint es anders zu sein. Leider konnte ich die Bildung des Mundorganells nie selbst beobachten.

In meinem bevorzugten Fundort Simmelried ist Trachelophyllum sigmoides vergleichsweise häufig. Exemplare finden sich vor allem in alten Proben der oberen Schlammschicht des Simmelriedes. Damit scheine ich hier privilegiert zu sein, denn Trachelophyllum sigmoides wird an anderen Standorten offensichtlich nicht so häufig gefunden. Deshalb habe ich vor 9 Jahren in einer Zusammenarbeit mit Wilhelm Foissner eine Vermessung dieser Art durchgeführt. Zu den recht mühseligen Aufgaben der Feldforschung zählt die Bestimmung von Länge, Breite, Zahl Mi, Zahl Ma usw. von mindestens 30 lebenden Exemplaren. Die muss man erst Mal finden und alle aus den Proben herausfischen. Die Messung darf nicht an gepressten oder anders beeinflussten Exemplaren stattfinden (also möglichst frei schwimmend). Heute erleichtere ich mir die Arbeit mit der Digitalfotografie (drauf halten und später messen). Vor 9 Jahren war noch Diafilm angesagt und ich habe immer auf einen guten Schuss gewartet, um etwas Filmmaterial zu sparen. Ich habe die alten Fotos noch mal herausgesucht, denn sie verdeutlichen die Varianz, die eine Art zeigen kann:

(https://www.mikroskopie-forum.de/pictures007/152491_66887917.jpg)

Wie Kahl schon beschrieben hat, scheint es recht viele Stämme mit Zoochlorellen zu geben. Einige Exemplare scheinen dagegen gar keine Zoochorellen zu tragen. Über den Grund dafür kann nur spekuliert werden. Als Resultat meiner Messungen kam heraus, dass die Länge von Trachelophyllum zwischen 180 – 488 µm schwankt. Kahl gibt 250 – 400 µm an. Wie man an dem ersten Bild dieses Beitrages sieht, sind sogar 540 µm möglich, wenn das Exemplar elongiert ist. Aber obwohl Trachelophyllum bei den Abmessungen eine hohe Varianz zeigt, ist es dennoch eine sichere, charakteristische Art und immer wieder ein interessantes Unterschungsobjekt.

Allen einen schöne  Abend!

Martin


Titel: Re: Trachelophyllum sigmoides- Ein Ciliat im Kettenhemd
Beitrag von: Tobse in Juni 23, 2014, 12:36:06 NACHMITTAGS
Hallo Martin,

Dein Beitrag (eigentlich nicht nur dieser) kommt mir vor wie ein Fernstudium in Mikrobiologie.
Auch wenn ich mir das nicht alles merken kann bzw. verstehe, es fühlt sich trotzdem deutlich besser an als Kurzwissen zu saugen.

Mir ist aufgefallen dass die meisten beweglichen Einzeller auf der Flucht vor dem Licht sind, sie versuchen also den durchleuchteten Bereich schnell wieder zu verlassen.
Das war vermutlich bei diesem Ciliat auch der Fall, wie nimmt er Licht wahr, bzw. warum kommt es zur Fluchtreaktion?
Plankton bedeutet umherirrend, das sind sie dann im Bereich ihres möglichen doch nicht ganz ?

Grüße
Tobias




Titel: Re: Trachelophyllum sigmoides- Ein Ciliat im Kettenhemd
Beitrag von: the_playstation in Juni 23, 2014, 13:22:04 NACHMITTAGS
Hallo Martin.
Auch Ich bin begeistert von deinen sehr informativen, detailreichen Erklärungen.
Nach Eckhards tollen REM Aufnahmen von Amöben-Panzerungen ein weiteres Beispiel für die genialen Tricks und Fähigkeiten der Natur.
Bei der Geschmeidigkeit und Weichheit des Ciliaten kann man kaum glauben, daß sich unter der "(Haut)" / Membran ein komplexes "Kettenhemd" verbirgt.

Liebe Grüße Jorrit.
Titel: Re: Trachelophyllum sigmoides- Ein Ciliat im Kettenhemd
Beitrag von: Holger Adelmann in Juni 23, 2014, 15:33:03 NACHMITTAGS
Toll, wieder mal so einen spannenden und wunderbar bebilderten Beitrag von Dir zu lesen, lieber Martin!

Herzliche Grüsse,
Holger

Titel: Re: Trachelophyllum sigmoides- Ein Ciliat im Kettenhemd
Beitrag von: Martin Kreutz in Juni 23, 2014, 19:34:43 NACHMITTAGS
Guten Abend zusammen!

@Tobias: Deine Beobachtung mit der negativen Phototaxis von Ciliaten (oder anderen Einzellern) kann ich eigentlich nicht bestätigen. Viele sind positiv phototaktisch (z.B. praktisch alle Augenflagellaten). Ein Lichtsensor bei Ciliaten wurde mal bei Ophryoglena vermutet (das Lieberkühn'sche Organell), wurde meines Wissens aber nie bestätigt. Ich habe nur einen einzige Einzeller bisher beobachten können, der eine nicht zu erklärende Reaktion auf Licht zeigte. Das war die "sehende Amöbe" (wahrscheinlich eine Leptomyxa), die ich hier mal per Video im Forum gezeigt habe. Das Video ist derzeit nicht aktiv, weshalb ich auf eine verlinkung verzichte. Ich werde es neu hochladen und dann nochmal zum Besten geben.

@Holger: Glaub mir, da würde auch mehr kommen, wenn ich etwas Zeit hätte. Meine Festplatte quillt über vor vielen Funden, die ich hier noch gerne zeigen würde!

Allen einen schönen Abend!

Martin   
Titel: Re: Trachelophyllum sigmoides- Ein Ciliat im Kettenhemd
Beitrag von: Tobse in Juni 23, 2014, 20:22:55 NACHMITTAGS
Hallo Martin,

vielen Dank für die Erklärung zur Lichtempfindlichkeit, vieleicht kam es mir nur so vor, jedenfalls hatte ich gerade bei Ciliaten schon den Eindruck das es so ist, am heftigsten bei den Tonnentierchen, auch Rädertierchen waren irgendwie auf der Flucht, sogar bei Kieselalgen hatte ich schon das Gefühl sie legen ohne Vorwarnung den Rückwärtsgang ein wenn es zu Hell wird.
Ich bin diesbezüglich wirklich kein Experte und lasse mich da gerne belehren.

Das Video mit der schnellen Amöbe ist mir noch gut in Erinnerung, das ist vermutlich nicht die "sehende"

Ich arbeite ja auch mit Mirkoorganismen, ich würde das so testen:
Mann von den Ciliaten evtl. sehr viele vermehren, dann Verdichten, mit Licht "stressen" dann ausquetschen und prüfen ob chemisch im Vergleich zu Nullvariante etwas auffällt  ;D

Herzliche Grüße
Tobias
Titel: Re: Trachelophyllum sigmoides- Ein Ciliat im Kettenhemd
Beitrag von: Martin Kreutz in Juni 24, 2014, 21:48:48 NACHMITTAGS
Hallo Tobias,

ich glaube, Dein vorgeschlagenes Experiment wird nicht zu einer Aussage führen, ob ein Protist lichtempfindlich ist oder nicht. Angenommen, Du würdest dieses Experiment an zwei Gruppen von Menschen durchführen, die eine hat stundenlang in der Sonne am Strand gelegen und die andere war im Keller eingesperrt und Du würdest deren Proteinmatrix nachher analysieren, dann würdest Du einen Unterschied festestellen. Dieser zeigt aber eher die Reparatur-Proteine an, die in den Sonnenanbetern am Werk sind, als einen Beweis dafür, dass die eine Gruppe lichtempfindlich ist (sehen kann) und die andere nicht. Der Nachweis, ob ein Protist Licht wahrnehmen kann oder nicht, gelingt eher dadurch, wie sich eine Kultur einer bestimmten Spezies gegenüber einer Hell-Dunkel-Zone verhält, also wo sie sich statisch gesehen ansammeln oder entfernen. Das Problem ist dann eher, bei einem Protisten ohne offensichtliches lichtempfindlichem Organell (z.B. Augenfleck) den Rezeptor ausfindig zu machen.

Gerade lädt sich das Video "Die sehende Amöbe" auf YouTube hoch und ich reaktiviere meinen früheren Beitrag. Müsste gleich soweit sein.

Schönen Abend!

Martin
Titel: Re: Trachelophyllum sigmoides- Ein Ciliat im Kettenhemd
Beitrag von: Martin Kreutz in Juni 24, 2014, 21:59:12 NACHMITTAGS
Hallo zusammen,

auf Grund der Diskussion in diesem Thread habe ich meinen früheren Beitrag "Die sehende Amöbe" wieder reaktiviert (sprich das Video wieder hochgeladen und verlinkt). Wer Interesse hat:

http://www.mikroskopie-forum.de/index.php?topic=6532.0

Viel Spass und schönen Abend!

Martin


Titel: Re: Trachelophyllum sigmoides- Ein Ciliat im Kettenhemd
Beitrag von: Eckhard in Juni 25, 2014, 10:50:06 VORMITTAG
Hallo Martin,

wirklich sehr interessant. Foissner hat mir Anfang des Jahres hiervon erzählt, aber ich habe noch nie Bilder der Schuppen gesehen. Du hast nicht zufällig eine kleine Trachelophyllum Kultur?  ;D Ich würde das Tierchen ja gerne mal fürs REM präparieren.

Herzliche Grüsse,
Eckhard
Titel: Re: Trachelophyllum sigmoides- Ein Ciliat im Kettenhemd
Beitrag von: Martin Kreutz in Juni 25, 2014, 21:34:17 NACHMITTAGS
Tsja, lieber Eckhard,

das Leben ist nicht wie in Amazon, immer einen Klick von der Lieferung entfernt! Leider sind die Trachelophyllum gerade aus! Aber sobald mein Provider wieder liefern kann, will ich Deine Bestellung gerne aufnehmen ;)!

Schönen Abend!

Martin