Legendrea loyezae – Ein Ciliat mit Tentakeln

Begonnen von Martin Kreutz, Dezember 22, 2014, 19:57:23 NACHMITTAGS

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Martin Kreutz

Liebes Forum,

wie bei den ,,makroskopischen" Pflanzen und Tieren gibt es auch in der Mikrowelt häufige und seltene Arten. Mitunter muss man als Mikroskopiker lange warten, bis man den Ein oder Anderen Exoten mal leibhaftig zu Gesicht bekommt. So erging es mir im Mai diesen Jahres, als ich in dem Fundort Ulmis Ried (N 47°41'22.25", E 9°10'40.88"), den abstrakt geformten Ciliaten Legendrea loyezae fand. Bei dem Ulmis Ried handelt es sich um einen künstlich angestauten Teich nahe der Universität Konstanz, der maximal 1 m tief ist und stark mit Myriophyllum bewachsen ist. Zudem befindet sich viel Totholz durch hineingestürzte Bäume darin. Die Probe, in der ich Legendrea loyzae gefunden habe, stammte aus ca. 10 – 20 cm Tiefe aus der Falllaubzone zwischen Beständen von Igelkolben (Sparganium). Ich konnte bisher nur ein einziges Exemplar finden, obwohl ich den Fundort seit 21 Jahren regelmäßig beprobe. Über Legendrea loyezae ist praktisch nichts bekannt. Die bisherigen Nachweise und Beschreibungen in der Litertaur sind sehr spärlich, weshalb ich meinen Fund hier vorstellen und mit den bisher bekannten Daten vergleichen möchte.

Die Erstbeschreibung von Legendrea loyezae stammt von Fauré-Friemet aus dem Jahre 1908. Danach ist diese Art auch von Penard gefunden worden (1914) und zuletzt von Kahl (1935), jedoch immer nur vereinzelt. Nachweise nach 1935 gibt es nicht.

Das Erscheinungsbild von Legendrea loyezae ist unverwechselbar, da der Ciliat Bündel von Tentakeln besitzt, die an seinem Hinterende entspringen. Ich erkannte ihn also sofort und da mir die Seltenheit von Legendrea loyezae bewusst war, isolierte ich das einzige gefundene Exemplar vorsichtig mit einer ausgezogenen Pipette und überführte es in ein Präparat mit ausreichender Schichtdicke, damit es weiterhin frei schwimmen konnte. Die Schwimmweise war träge und langsam rotierend. Zuerst nahm ich ein Video des frei schwimmenden Exemplars auf:

https://www.youtube.com/watch?v=nD0BQWMHWU0

Die Körperlänge des Exemplars (ohne Tentakel) betrug 90 µm und es war in der Mitte ca. 50 µm dick. Dies deckt sich mit den Angaben von Kahl, der 70 – 90 µm Länge angibt. Schon bei kleiner Vergrößerung erkennt man die vielen tentakelartigen Fortsätze, die Legendrea loyezae so ungewöhnlich und unverwechselbar machen (s. Abb. 1). Der Ciliat selber ist plump ovoid geformt, mit einer schrägen, apikalen Abstutzung, die durch den ca. 40 µm langen und 5 µm breitem Mundspalt gebildet wird. Die Abschrägung verläuft von dorsal nach ventral abfallend. Während Fauré-Fremiet und Penard noch von einer lateralen Anordnung der Tentakel ausgingen, beschreibt Kahl den Ursprung der Tentakel ventral und dorsal aus einer kerbenförmigen Vertiefung heraus, welche auch das Hinterende des Ciliaten umläuft. Deshalb scheint Legendrea loyezae aus ventraler oder dorsaler Sicht am Hinterende in zwei sackförmigen Ausbuchtungen zu enden. Die kontraktile Vakuole war bei meinem Exemplar in der rechten hinteren Ausbuchtung zu finden.


Abb. 1: Die links laterale (a) und ventrale Ansicht (b) von dem frei schwimmenden Exemplar Legendrea loyezae (Video screen shots) im Vergleich zu den Originalzeichnungen von Kahl (c, d). DB = Dorsalbürste, KV = kontraktile Vakuole, MS = Mundspalt. 

Nach dieser Voruntersuchung begann ich die Schichtdicke sukzessive zu reduzieren, um alle Merkmale bei hoher Vergrößerung untersuchen und fotografieren zu können. Sowohl auf der Ventral- als auch auf der Dorsalseite entsprangen bei meinem Exemplar je 15 Tentakel, was mit den Angaben von Fauré-Fremiet nicht übereinstimmt, der insgesamt 20 angibt, also auf jeder Seite nur 10. Die Tentakel werden beim Schwimmen passiv hinterhergezogen. Ich konnte keine Anzeichen dafür finden, dass sie aktiv beweglich sind. Sie waren zwischen 20 und 45 µm lang und hatten einen Durchmesser von ca. 6 µm (s. Abb. 2).


Abb. 2: Ventrale (a) und rechts laterale Ansicht (b) von Legendrea loyezae. MS = Mundspalt, TE = Tentakel, L = 90 µm (ohne Tentakel). 

Der Aufbau der Tentakel wurde bereits von Penard und Kahl sehr genau untersucht. Distal enden die Tentakel in papillenförmigen Verdickungen, in denen 2 Arten von Extrusomen angeordnet sind (s. Abb. 3). Der distale, kuppenförmige Saum wird von sehr kurzen, nur ca. 1,5 µm langen Extrusomen gebildet, die so dicht angeordnet sind, dass ich ihre genaue Form und Anzahl nicht erkennen konnte. Darunter befinden sich ca. 10 leicht gebogene und ca. 6,2 µm lange Extrusome, die in einem dichten, parallelen Bündel angeordnet sind. Bei den Tentakeln selber handelt es sich um hohle Schläuche. Mir schien es, dass es sich um Ausstülpungen der Pellikula handelt. In den Tentakeln scheint eine Art Faden zwischen der Basis und dem distalen Ende zu verlaufen. Bei höherer Vergrößerung erkennt man jedoch, dass dieser Faden offensichtlich auf der inneren Tentakelwandung aufliegt und aus feinem Granula besteht, so wie Penard ihn auch gezeichnet hat. Die Tentakel selber sind nicht bewimpert, mit Ausnahme einer ringförmigen Anordnung von Cilien, die nach meinen Beobachtungen direkt unterhalb der distalen Papille entspringen und unablässig, peitschenartig schlagen. Diese Anordnung weicht etwas von den Beobachtungen von Penard und Kahl ab, welche den Ursprung der Tentakel am distalen Ende zeichnen (Penard) oder unterhalb des Bündels aus langen Extrusomen (Kahl).


Abb. 3: Die nicht gequetschten (a) und gequetschten Tentakel (b) von Legendra loyezae im Vergleich zu den Originalzeichnungen von Penard (c) und Kahl (d). CR = Cilienring unterhalb der Papille, EX = Extrusomen, FA = Faden bestehend aus Granula, PA = Papille, TS = hohler Tentakelschaft.

Betrachtet man die seltsamen Tentakel, so fragt man sich, welche Beute damit gefangen wird und wie die Nahrungsaufnahme eigentlich erfolgt. Wenn z.B. Beutetiere an den Tentakeln von Legendrea loyezae haften bleiben, wie werden diese dann zum Mundspalt geführt? Oder dienen die Tentakel auch als Saugrohr wie bei den Suktorien? Es wurde bereits von Kahl diskutiert (Kahl, 1931), ob Arten der Gattung Legendrea nicht enge Verwandte oder gar Vorläufer der Suktorien sein könnten. Leider machen die früheren Beobachter keine Angaben zur Nahrungsaufnahme oder haben sie nicht beobachtet, um darüber Klarheit zu gewinnen.

Das Plasma von L. loyezae ist angefüllt mit hochbrechenden, ölartigen (Vorrats)Körpern mit ca. 5 – 15 µm Durchmesser, wodurch der Ciliat im ungequetschten Zustand völlig durchsichtig war. Im gequetschtem Exemplar waren jedoch zwischen diesen Reservestoffen sehr viele (symbiontische?) Bakterien zu erkennen, die sich aus mindestens 2 Arten zusammensetzten (s. Abb. 4). Die größere, zylindrisch geformte Art, maß ca. 4 – 5 µm x 1 µm, während die schlankere Art nur ca. 0,3 µm breit und ca. 3 µm lang war. Diese Mischung und Formen von Bakterien fand ich auch bei vielen anderen Faulschlammciliaten (z.B. Metopus und Spathidium).


Abb. 4: Die kleinen (KB) und großen (GB) Bakterien im Plasma von Legendrea loyezae (b) sind wahrscheinlich Symbionten. Die kleinen Bakterien scheinen zudem geordnete Aggregate (AB) zu bilden.   


Im Plasma konnte ich leider keinen Hinweis auf irgendwelche Beuteorganismen finden oder andere Nahrung finden. Beim vorsichtigen drehen des Exemplars unter dem Deckglas konnte ich eine vierreihige Dorsalbürste mit ca. 5 - 6 µm langen Borsten erkennen (s. Abb. 5).


Abb. 5: Die 4-reihige Dorsalbürste von Legendrea loyazea in dorsaler Sicht (a, Pfeile) und von der linken Seite lateral gesehen (b). DB = Dorsalbürste.

Erst in dem stark gequetschten Exemplar wurde der 95 µm lange, wurstförmige Makronukleus komplett sichtbar (Abb. 6). Der kugelförmige, nur 3,5 µm große Mikronukleus, war nur schwer auszumachen und dem Makronukleus vor dem Quetschvorgang wahrscheinlich angelagert.


Abb. 6: Der Makronukleus Ma und Mikronukleus Mi von Legendrea loyezae.

Es ist klar, dass bei diesem außergewöhnlichen Ciliaten noch viele Frage offen sind, wie Nahrungsaufnahme, Teilung, Cystenbildung usw. Angesichts der wenigen bisherigen Nachweise dürfte es auch noch etwas dauern, bis da etwas Licht ins Dunkle kommt.

Allen einen schönen Abend und viel Spass beim lesen und anschauen!

Martin


Literatur:

Fauré-Fremiet, E.: L'Ancyatropodium maupasi. Arch. f. Protk. 13, 121 – 138 (1908).

Kahl, A.: Über die verwandtschaftlichen Beziehungen der Suctorien zu den Prostomen Infusorien. Arch. Protistenk. 73, 423 – 481 (1931).

Kahl, A.: Urtiere oder Protozoa (Infusoria). In: Dahl, F. (Hrsg.): Die Tierwelt Deutschlands, Gustav Fischer Verlag,  Jena (1935).

Penard, E.: Un curieux Inf. Legendrea bellerophon. Rev. Suisse Zool. 22, 407 – 433 (1914).

Penard, E.: Etudes sur les infusoires d'eau douce. Georg & Cie, Geneve (1922).
 
Nachtrag 23.12.2014:

Matthias Burba hat mir per PM mitgeteilt, dass er Legendrea loyezae in den Jahren 1970 - 1975 in Frankfurt in der Schilfzone des Ostparkweiher gefunden hat. Dieser schließt sich an den dortigen Sportplatz an. Am häufigsten waren die Funde im Frühjahr und zwar an helleren Lichtungen zwischen dem Bewuchs. Nach dem Ausbaggern des Gebietes wurde Legendrea loyezae nicht mehr gefunden. Diese Fundortbeschreibung deckt sich mit den Bedingungen im Ulmis Ried. Offensichtlich scheint sich Legendrea loyezae bevorzugt im Schlamm zwischen der Uferbepflanzung aufzuhalten.

Danke Matthias!

Martin



PiterPe

Hallo Martin!

Nachweise nach 1935 gibt es nicht.

Bis Jetzt! Gratuliere!

PiterPe

PS - Tolle Photos :-)
Nikon TMS-F, PZO MST-131, PZO Biolar B, Olympus BHA EPI
Vorstellung & Facebook

limno

Hallo Martin,
da fällt einem ja die Kinnlade 'runter ::), was wird Prof. Foissner dazu sagen?! Möglicherweise hast Du vielleicht eine neue Art entdeckt! Mit der Akkuratesse  Deiner Beobachtungen und deren staunenswerter Darstellung bist Du hier im Forum so legendär wie eben jener Ciliat. Gottseidank bist Du im Gegensatz zu jener Celebrität  frisch und munter und so besteht die Möglichkeit, dass Du nächstes Jahr an selber Stelle vielleicht einen Artgenossen entdeckst und diesen in (Fundortwasser)-Kultur nimmst und und zur Vermehrung animierst. Zugegeben, dagegen ist die Vermehrung eines Bambusbären (Riesenpanda) nachgerade ein Kinderspiel! Bei dem ist zumindest bekannt, was er frisst! Jetzt hast Du schon mal einen Vorsatz fürs Neue Jahr! Bestimmt sind alle sehr gespannt auf weitere Ergebnisse.
Mit allerbesten Wünschen grüßt Dich
ein faszinierter Heinrich
So blickt man klar, wie selten nur,
Ins innre Walten der Natur.

Bernhard Kaiser

Hallo Herr Kreutz,

Gratulation und ein gutes Neues Jahr!

Freundliche Grüße
Bernhard Kaiser

koestlfr

Guten Morgen lieber Martin!

Sensationell! Was soll man da noch sagen!

Sag mal, quetscht du die Ciliaten stark, um derart scharfe Bilder zu bekommen?

Liebe Grüße und frohe Festtage
Franz
Liebe Grüße
Franz

Jürgen H.

#5
Lieber Martin,

ganz herzlichen Dank für Deinen außerordentlich guten Beitrag. Gäbe es in diesem Forum einen Beitrag des Jahres, dann wäre bei Jahresschluss an diesen Beitrag zu denken! Ich hoffe, Du findest weitere Exemplare dieses Ciliaten und kannst noch weitere Beobachtungen machen. Ein wirklich eigenartiger Geselle: wenn man ihn beim Schwimmen zuschaut, scheinen ihn die Tentakeln eher zu behindern als zu nutzen, so steif und nahezu unbewegt, wie er sie hinter sich herzieht.

Schöne Grüße

Jürgen

Bernhard Lebeda

Lieber Martin

herzlichen Glückwunsch zu diesem tollen Fund!!

Die Doku ist wie immer lehrbuchmäßig, aber dieses Video haut mich um. So einen abgefahrenen Ciliaten hab ich noch nie gesehen!!



Viele Grüße

und frohes Fest

Bernhard
Ich bevorzuge das "DU"

Vorstellung

Martin Kreutz

#7
Hallo zusammen,

erstmal herzlichen Dank für die positiven Rückmeldungen!

@Heinrich: Was würde Foissner sagen!? Er sagte, sofort im Mikrokosmos veröffentlichen! Tsja, hat sich erledigt!

@Franz: Ja, die Viecher werden völlig platt gemacht, sonst erkennt man viele Details nicht (z.B. Mikronukleus oder Extrusome). Außerdem erreicht die Optik erst dann die volle Auflösung. Im alten Forum gibt es ein paar einprägsame Beiträge von mir zu diesem Thema. Ich gehe immer gleich vor. Bei hoher Schichtdicke das Erscheinungsbild fotografieren und die Schwimmweise beobachten. Dann einklemmen und während die Ölimmersion drauf ist das Wasser einfach verdunsten lassen. Währenddessen alles ablichten was wichtig ist. Die Form der Extrusome und evtl. symbiotische Bakterien sieht man meist erst, wenn der Ciliat geplatzt ist und zerfließt.

@Jürgen: Ja, ich hatte auch den Eindruck, dass die Tentakel den Ciliaten beim schwimmen bremsen. Sie müssen eine entscheidende Funktion haben, damit sich so etwas ausbildet. Wenn man ein Exemplar finden würde mit gefüllter Nahrungsvakuole, wüsste man wenigstens, wem es damit an den Kragen geht!    

Schönen Abend!

Martin

ruhop

Hallo, Martin.

Wie immer: eine grandiose Darstellung in Wort(en) und Bild(ern)!

Was den Mikrokosmos betrifft, so ist der ja nun bald Legende. Aber veröffentlichen solltest Du diesen Beitrag dennoch. Ich glaube, Prof. Piper würde liebend gerne so  etwas zur Veröffentlichung in seiner neuen Zeitschrift annehmen.

Schöne Feiertage.

Holger

Martin Kreutz

Hallo Holger,

Du sprichst auf das "Mikroskopie Journal" an, welches bereits im "Mikro-Cafe" diskutiert wurde. Ich habe mir gerade die "Hinweise für Autoren" durchgelesen. Das die Redaktion einen "Peer Review Prozess" durchführt, finde ich sehr gut. Wichtig ist mir, dass der Inhalt dieser Zeitschrift recherchierbar ist. Dies scheint durch den Eintrag von key words in Datenbanken auch gegeben zu sein. Ist eine Überlegung wert!

Auch schöne Feiertage!

Martin