Liebes Forum,
in den letzten Tagen habe ich mich mit Spirostomum ambiguum beschäftigt, der in allen meinen Fundorten sehr häufig ist und manchmal auch massenhaft auftritt. Mit 1000 – 3000 µm Länge ist er nicht zu übersehen und auch in einer Probe des Bodenschlammes leicht aufzuspüren. Zudem schwimmt er recht langsam, ist nicht deckglasempfindlich und lässt sich gut quetschen. Man sollte daher meinen, dass er schon oft eingehender untersucht und fotografiert wurde. Dies scheint jedoch nicht der Fall zu sein. In der Literatur und im Internet findet man meist nur Übersichtsfotos von frei schwimmenden Exemplaren. Dabei fiel mir auf, dass fast nie kontrahierte Exemplare abgebildet wurden (außer in Foissner's Revision). Darum habe ich erst Mal versucht ein frei schwimmendes Exemplar und ein kontrahiertes zu fotografieren. Das frei schwimmende ist einfach, jedoch den richtigen Moment des kontrahierten Exemplars abzupassen, wesentlich schwieriger, da die Kontraktion sofort wieder in eine Expansion übergeht. Der Moment der maximalen Kontraktion ist also nur sehr kurz. Mein 1370 µm langes Exemplar hat sich um 60 % auf 550 µm verkürzt. Bei beiden folgenden Bilder zeigen den realen Größenvergleich:
(https://www.mikroskopie-forum.de/pictures009/240061_11404313.jpg) (https://flic.kr/p/Qu71C7)(https://www.mikroskopie-forum.de/pictures009/240061_39785641.jpg) (https://flic.kr/p/NgSq5x)
Die obigen Fotos zeigen außer der äußeren Form praktisch keine weiteren Details. Erst bei höheren Vergrößerungen kommen diese zum Vorschein. Hier die adorale Membranellenzone, die am apikalen Ende ihren Ursprung hat:
(https://www.mikroskopie-forum.de/pictures009/240061_45523402.jpg) (https://flic.kr/p/PTZEho)
AZM = adorale Membranellenzone
Es zeigte sich dann die Tücke des (großen) Objektes. Wo ist denn die Mundöffnung? Da muss man schon viel Fläche absuchen. Sie liegt sehr weit hinten, vor Beginn des hinteren Körperdrittels. In ihr mündet die adorale Membranellenzone, welche in einer unbewimperten Rinne verläuft. Diese Rinne ist deutlich zu erkennen. Sie ist auf der rechten Seite von einer undulierenden Membranelle begrenzt, die ohne Silberimprägnierung jedoch sehr schwer zu erkennen ist. Dieser Aufbau ist sehr effektiv. Die adorale Membranenzone erzeugt durch den synchronen Wimpernschlag einen Wasserstrom in dieser Rinne, der zur Mundöffnung hin gerichtet ist. Die undulierende Membranelle auf der anderen Seite der Rinne dient quasi als Leitplanke und hält Bakterien und Partikel auf Spur, bis sie zur Mundöffnungen gelangen:
(https://www.mikroskopie-forum.de/pictures009/240061_35287174.jpg) (https://flic.kr/p/2aDoiTt)
MR = Mundrinne
AZM = adorale Membranellenzone
MO = Mundöffnung
Das lange Band der adoralen Membranellenzone ist hochsymmetrisch aufgebaut:
(https://www.mikroskopie-forum.de/pictures009/240061_44419000.jpg) (https://flic.kr/p/PTZCLN)
AZM = adorale Membranellenzone
Hier der Ursprung der AZM, wo gerade eine neue Welle im synchronen Wimpernschlag beginnt:
(https://www.mikroskopie-forum.de/pictures009/240061_52697953.jpg) (https://flic.kr/p/2aW9aqG)
AZM = adorale Membranellenzone
Hier die Mundöffnung im Detail. Sie biegt unten nach rechts ab und ist stiefelförmig:
(https://www.mikroskopie-forum.de/pictures009/240061_22597652.jpg) (https://flic.kr/p/2c2Yt7g)
MO = Mundöffnung
Die Mundgrube in lateraler Ansicht:
(https://www.mikroskopie-forum.de/pictures009/240061_10261382.jpg) (https://flic.kr/p/2aW9axA)
MG = Mundgrube
Die kontraktile Vakuole liegt terminal. Von ihr ausgehend zieht sich ein Sammelkanal, der sich über die gesamte Körperlänge hinweg zieht. Er liegt dicht unter der Pellikula. Kontrahiert die Zelle, wird er gegen den Uhrzeigersinn spiralisiert, so wie der Verlauf der adoralen Membranellenzone. Auf folgender Aufnahme des Sammelkanals habe ich die Richtungen zum apikalen und terminalen Ende des Ciliaten markiert:
(https://www.mikroskopie-forum.de/pictures009/240061_59109011.jpg) (https://flic.kr/p/2c2YtjR)
AP = apikales Ende
TE = terminales Ende
SK = Sammelkanal
AZM = adorale Membranellenzone
In Übersichtsaufnahmen und auf den meisten Abbildungen ist Spirostomum ambiguum oft braun bis undurchsichtig braunschwarz. Dies liegt teilweise an der aufgenommen Nahrung (meist Bakterien und Detritus), aber auch an der Dicke des Objektes. Bei höheren Vergrößerungen erkennt man, das sich sowohl im Plasma verteilt aber insbesondere auch unter der Pellikula viele gelbliche Öltröpfchen befinden. Eigentlich ist Spirostomum ambiguum also gelblich gefärbt. Die Öltröpfchen sind alle unterschiedlich groß und nicht einheitlich wie z.B. das Pigmentgranular von Stentor:
(https://www.mikroskopie-forum.de/pictures009/240061_42659827.jpg) (https://flic.kr/p/2c2YrU6)
In gequetschten Exemplaren ist der perlschnurartige Makronukleus leicht zu erkennen. Er erstreckt sich fast über die gesamte Körperlänge:
(https://www.mikroskopie-forum.de/pictures009/240061_40644060.jpg) (https://flic.kr/p/2bXHpqJ)
Ma = Makronukleus
Obwohl ich schon einige Erfahrung bei dem Erkennen von Mikronuklei habe, die manchmal sehr unscheinbar sein können, konnte ich diese bei Spirostomum ambiguum nicht identifizieren. Auch im Internet und der mir vorliegenden Literatur werden sie nicht erwähnt. Da bleibt also noch Forschungsarbeit!
(https://www.mikroskopie-forum.de/pictures009/240061_17043416.jpg) (https://flic.kr/p/PTZB6o)
Ma = Makronukleus
Ich hoffe, ich konnte hier noch einige neue Eindrücke von diesem häufigen Ciliaten vermitteln.
Martin
Hallo Martin,
ich möchte mich dafür bedanken, dass Du mir die Gelegenheit bietest, mehr über Spirostomum ambiguum zu lernen. Zur tolle Fotoqualität fallen mir keine Steigerungen mehr ein!
Ich habe vor Jahren mal bei Spirostomun sp. (ich glaube es war S. ambigium) versucht, die Zellkerne mit Methylgrün zu färben, und habe ebenfalls keine Mikronuklei gefunden. Ich dachte damals, dass diese vielleicht von den Makronuklei verdeckt werden oder sehr eng an sie anliegen. Da Du auch keine gefunden hast - ist es denn denkbar, dass es Ciliaten ohne (permanenten) Mikronukleus gibt?
Die Spirostomum-Exemplare, die ich bis jetzt gefunden habe, schienen mir eher weiß (also farblos) zu sein. Ist die von Dir gezeigte Farbe der Nahrung geschuldet?
Viele Grüße und Danke fürs Zeigen
Michael
Hallo Martin
Danke, das ist wieder ein absoluter Spitzenbeitrag :)
Liebe Grüße
Gerhard
Hallo Michael,
ein wesentliches Merkmal der Ciliaten ist der Kerndualismus. D.h. Makro- und Mikronukleus sind eigentlich immer vorhanden. Ich kenne bisher keine Ausnahme. Ich habe heute abend an weiteren 5 Exemplare von Spirostomum ambiguum die Kernverhältnisse genau untersucht und ich konnte wieder keine Mikronuklei eindeutig erkennen und zuordnen. Das heißt aber nichts. Sie müssen nicht dem Makronukleus angelagert sein, sondern können auch frei im Plasma liegen. Dann ist es besonders schwierig sie zu erkennen. Hat man es dann auch noch mit vollgefressenen Viechern zu tun, ist die Sache aussichtslos. Da hilft nur Färbung. Die Öltröpfchen unter der Pellikula habe ich mit dem 60 X Apo, HF, nicht abgeblendet, nochmal genau angeschaut. Sie sind bei meiner Population gelblich. Das hat aber auch nicht viel zu sagen. Wenn es wirklich Öltröpfchen sind (das ist anzunehmen), dann hängt deren Eigenfärbung evtl. von der aufgenommen Nahrung ab, wie Du vermutest.
Martin
Hallo,
In diesem Artikel
(http://www.google.de/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=1&cad=rja&uact=8&ved=2ahUKEwi02_K9m4neAhUQbVAKHbh7B6AQFjAAegQIBRAB&url=http%3A%2F%2Fjcs.biologists.org%2Fcontent%2Fjoces%2Fs2-69%2F276%2F661.full.pdf&usg=AOvVaw3L-ppFizM1KxxcI9bxf3fe)wird der Mikronukleus von S. ambiguum abgebildet. Jedoch finden laut Literatur bei S. ambiguum nur selten Konjugationen statt. Außerdem gibt es tatsächlich rein asexuell reproduzierende Ciliatenstränge ohne Mikronukleus, wie hier beschrieben:https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/24885485 (https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/24885485). Demzufolge halte ich es für wahrscheinlich, dass S. ambiguum in der Umwelt zumeist in einer amikronucleaten Form vorkommt. Dies würde Erklären, warum auch hier keine Kleinkerne gefunden werden konnten.
Viele Grüße
Stefan
Hallo Stefan,
vielen Dank für diese interessante Ergänzung! Diesen Artikel kannte ich nicht. Offensichtlich sind die Mikronuklei von Spirostomum ambiguum auch sehr klein. Eventuell sind sie sogar auf dem letzten Bild meines Beitrages abgebildet, aber durch die ähnlichen Formen des Granula im Plasma nicht eindeutig zu identifizieren. Ob es wirklich amikronucleate Ciliaten in der freien Natur gibt, die ohne Konjugation auskommen, bezweifel ich, kann es aber natürlich nicht beweisen. Ich habe den Zweck des Kerndualismus jedoch nicht nur in der Möglichkeit der Konjugation gesehen, sondern auch in dem stark beschleunigten Stoffwechsel der Ciliaten. In den Makronuklei werden bestimmte Genabschnitte für den "Tagesbedarf" tausendfach vervielfältigt, um genügend hohe Expressionsraten (z.B. von Proteinen) zu erzielen. Jedenfalls kann man festhalten, dass auch Spirostomum ambiguum Mikronuklei besitzt, auch wenn ich diese nicht erkannt habe.
Martin
Hallo Martin,
wieder einmal ein toller Bericht von Dir, von dem man nur lernen kann, auch hinsichtlich Deiner (wieder einmal) hervorragenden Aufnahmen. Da gibt es meiner Meinung nach kaum noch Steigerungspotential.
Ich hatte Spriostomum auch mehrmals unter meinem Mikroskop und habe davon Videos angefertigt. Die adorale Membranellenzone (AZM), die sich wie ein "Reißverschluss" über ca. 2/3 der Zelllänge erstreckt, ist auf meinen Aufnahmen gut zu erkennen. Vor allem dann, wenn sich Spirostomum langsam um seine Längsachse dreht. Ebenfalls war bei meinen Exemplaren die Mundöffnung (MO) sicher zu erkennen. Vom Makronukleus oder gar Mikronukleus konnte ich nichts erkennen, was auch daran lag, dass meine Exemplare extrem undurchsichtig waren. Kontraktionsvorgänge konnte ich ebenfalls beobachten und auch auf Video bannen. Wenn Interesse besteht, gebe ich den Link meines Videos mal in die Runde. Aber gebt mir noch ein wenig Zeit für die Bearbeitung. Bei mir haben sich zwischenzeitlich so viele Video-Rohdatein angesammelt, ich komme mit der Bearbeitung und dem Schnitt gar nicht mehr so schnell nach :-\
Hallo Martin,
kaum bin ich mal ein paar Tage offline, präsentierst Du hier wirklich sehr wert- und eindrucksvolle Beiträge, die in "früheren Zeiten" (als wir noch jung waren) mit Sicherheit im MIKROKOSMOS an berechtigtem Platz für die Ewigkeit aufgehoben worden wären. Ich konnte dadurch einiges lernen; deshalb besten Dank dafür.
Bei solchen Beiträgen ergeben sich natürlich auch neue Fragen und Anregungen.
So ist ja Spirostumum bekannt dafür, dass die Zelle rekordverdächtig schnell kontrahieren kann. Irgendwie scheinen Myoneme bei der Kontraktion eine Rolle zu spielen. Allerdings ist mir keine Literatur zugänglich, die diejenigen Strukturen zeigt, die dafür verantwortlich sind. Deshalb hier mal zwei Bilder vom selben Cortex von Spirostomum; das 1. Bild mit Fokus auf die Cilien:
(https://www.mikroskopie-forum.de/pictures009/240981_49584532.jpg)
das 2. Bild ein paar Mikrometer "tiefer" zeigt m.o.w. waagerechte Linien, von denen wiederum kleinere Elemente abzweigen (s.u.). Die Pfeilspitzen in beiden Bildern markieren eine identische Reihe. Verschiedenen Literaturstellen von Foissner entnehme ich, dass es sich dabei um Mikrotubulifasern handeln könnte. Stehen diese Fasern bzw. Strukturen im Zusammenhang mit der Kontraktionsfähigkeit von Spirostomum? Oder sind andere kontraktile Elemente dafür verantwortlich?
(https://www.mikroskopie-forum.de/pictures009/240981_19699911.jpg)
Du hattest ja die Pigmentgranula angesprochen und dabei auch auf die im Gegensatz dazu einheitliche Struktur von Stentor hingewiesen. Auch dazu eine Bemerkung bzw. Frage:
Ausgehend von "meinem" Bild 2 hier ein Ausschnitt (die Pfeile weisen auf dieselbe "Reihe" mit den nach unten abstehenden kleineren Elementen wie in den vorherigen Bildern):
(https://www.mikroskopie-forum.de/pictures009/240981_2389992.jpg)
Mit Fokus auf die Granula lassen sich m.E. zwei unterschiedliche Typen erkennen: Zum einen kleinere mit einem Durchmesser von ca. 0,5µm- 0,6 µm, die farblos und homogen erscheinen, zum anderen in etwa doppelt so große, gelblich erscheinende, welche inhomogen erscheinen (einige sind durch Pfeilspitzen markiert). Ich würde schon davon ausgehen, dass es zwei Größenklassen gibt. Welche Funktion diese Granula haben, ist mir unklar, allerdings habe ich dem Beitrag hier
https://www.mikroskopie-forum.de/index.php?topic=32473.0 (https://www.mikroskopie-forum.de/index.php?topic=32473.0)
erwähnt, dass bei den Heterotrichen Stentor und Blepharisma eine Photosensivität auf der Basis der (Pigment-) granula nachgewiesen ist. Warum also nicht auch bei den verwandten Spirostomum -Arten?
Zum andern wird die Anzahl der Reihen von Pigmentgranula schon in der "Ciliatenrevision" von Foissner zur Artunterscheidung eingesetzt.
Dazu gibt es wohl auch eine aktuellere Arbeit mit dem Titel: "Focusing on Genera to Improve Species Identification: Revised Systematics of the Ciliate Spirostomum", die mir aber nicht zugänglich ist. Gibt man aber diesen Titel bei google ein, so wird zumindest ein gering aufgelöstes Bild gezeigt, das (u.a.) die Granula-Reihen für verschiedene Spirostomum-Arten zeigt. Hat jemand zufälligerweise Zugriff zu dieser Arbeit?
Zum Schluss noch ein Bild von der Zone der adoralen Membranelle von einem weiteren Spirostomum-Exemplar . Auch hier wieder derselbe Befund: einige Pfeilspitzen zeigen auf größere inhomogene Granula. Die Pfeile markieren hier noch eine Reihe von anderen Strukturen. ??Alveolen??, ??Mitochondrien??. Auffällig ist in diesem Bild auch, dass die Cilien immer paarweise angeordnet sind ??Dikinetid??
(https://www.mikroskopie-forum.de/pictures009/240981_30880833.jpg)
Viel Spaß beim Anschauen & beste Grüße
Michael Plewka
Hallo Michael (P.),
vielen Dank für die interessante Ergänzung! Besonders die fischgrätenartige Struktur der Mikrotubulilamellen ist mir so noch nicht aufgefallen. Das muss ich mir mal live anschauen. Die unterschiedliche Erscheinungsform des Granula kann viele Ursachen haben. Neben dem Lichteinfall mag auch der Ernährungszustand ein Rolle spielen. Jedenfalls als Bestimmungsmerkmal nicht geeignet. Ja, die paarig angeordneten Cilien sind die Dikinetiden. Laut Foissner ist diese Anordnung sehr verbreitet, besonders bei den Colpodiden. Ich selbst kenne es auch von Bursaria truncata.
Martin