Hallo zusammen,
manche der bdelloiden Rädertiere, zu denen beispielsweise auch das allseits bekannte Teleskop-Rädertier Rotaria gehört, sind wahre Überlebenskünstler. Mehrjährige Trockenheit, Aufenthalt in flüssigem Stickstoff bei minus 190 Grad, ionisierende Strahlung, Aufenthalt im Weltall: alles kein Problem für die Viecher.
Auch hier im Forum wurde schon über seltsame "Biotope" berichtet, in denen diese Tiere lebendig vorgefunden wurden:
2015 berichtete Carsten Wieczorrek über eine Habrotrocha-Art, die im Trester-Behälter eine Kaffee-Maschine zu Hause war.
https://www.mikroskopie-forum.de/index.php?topic=23800.0 (https://www.mikroskopie-forum.de/index.php?topic=23800.0)
2. 2018 fand K. Herrmann ein Rädertier (wahrscheinlich Adineta) in den Kalkrückständen in einem Duschkopf.
https://www.mikroskopie-forum.de/index.php?topic=31221.msg231823#msg231823 (https://www.mikroskopie-forum.de/index.php?topic=31221.msg231823#msg231823)
Diesen Beobachtungen möchte ich einen weiteren Fund hinzufügen: 
in dem Ausguss eines Waschbeckens hatte sich in der Zeit, während ich mehrere Wochen im Ausland war, eine Grünalgenschicht angesiedelt, die natürlich untersucht werden musste.  Diese kokkalen Grünalgen konnte ich allerdings  nicht weiter bestimmen, vor allem, weil meine  Aufmerksamkeit  sofort auf mehrere  dort vorhandene bdelloide  Rädertierexemplare  fokussiert wurde. Auf diese Grünalgenschicht wurde ich allerdings erst aufmerksam, nachdem in diesem Waschbecken zwecks Händewaschen und Zähneputzen wieder Wasser geflossen war. Deshalb war die Anwesenheit dieser Rädertiere, die ja offensichtlich den  Reinigungsmitteln ausgesetzt sind, ziemlich erstaunlich. Da mich interessiert hat, ob und wie diese Viecher dort überleben, wurde diese Stelle für die übliche Reinigung des Beckens ausgespart. Ergebnis: die Rädertiere haben  dort für weitere 6 Wochen ziemlich munter trotz weiterer Berieselung mit Duschgel und Zahnpasta gelebt. Mittlerweile habe ich hier seit 14 Tagen eine "Kultur" dieser Viecher in einer Petrischale. 
Es handelt sich bei dem Rädertier um Philodina acuticornis. Dieses ist eigentlich ein ziemlich häufiges bdelloides Viech, das auch in aquatischen Lebensräumen vorkommt, aber (wie oben schon erwähnt) auch lange Trockenheit, wie sie z.B. bei Moosen vorkommt, ertragen kann. Mit Sicherheit ist diese Art beim Reinigen von Probengefäßen in das Waschbecken gelangt.
Hier ein Bild aus dieser Probe:
(https://www.mikroskopie-forum.de/pictures010/279579_19575591.jpg)
Das Bestimmen von bdelloiden Rädertieren ist nicht so ganz einfach und bringt auch mich noch ( nach ziemlich intensiver Beschäftigung mit dem Thema) regelmäßig zur Verzweiflung. Das liegt zum einen an der ziemlich unübersichtlichen Literatur, zum anderen daran, dass sich in vielen Fällen die bestimmungsrelevanten Merkmale nur sehr schwer erkennen lassen oder auch gar nicht.
An dieser Stelle deshalb nochmal ein kleiner Exkurs:
Auf folgende Kennzeichen sollte man achten:
1. Allgemeingestalt: 
bei den meisten bdelloiden Rädertieren (Ausnahme: Adinetidae) kann man zwei unterschiedliche Aktivitäts- bzw. Lebensformen beobachten:  Fortbewegung bzw. Nahrungsaufnahme.  Die Gestalt bei der Nahrungsaufnahme ("Rädern") ist diejenige Lebensform, die beispielsweise im "Wassertropfen" gezeigt wird, so dass man davon genügend Beispiele kennen sollte.  Dabei sind  die am Vorderende befindlichen Räderscheiben  (Korona) nach vorne ausgestreckt und bewirken durch die Bewegung der Cilien einen Wasserstrom, der Nahrungsteilchen in das Mundfeld strudelt. Die metachrone Bewegung der Cilien hat dieser Gruppe den Namen "Rädertier" gegeben.
Viel häufiger jedoch befinden sich die meisten bdelloiden  in der Phase der Fortbewegung, vor allem dann, wenn sie aus ihrem üblichen Lebensraum herausbefördert werden, wie es nun mal beim Beobachten mit dem Mikroskop  der Fall ist. Zwar können einige aquatische Formen schwimmen (so auch die hier thematisierte Form P. acuticornis), wobei sie dann ähnlich aussehen wie die rädernden Viecher, d.h. sie haben die  Räderscheiben ausgestreckt.  
Der größte Teil der Arten bewegt sich jedoch "egelartig" kriechend (woher sie den Namen "Bdelloidea" haben). Dabei sind die zuvor erwähnten Räderscheiben (im folgenden Bild durch Pfeilspitzen markiert) eingezogen, stattdessen ist der cilienbesetzte Rüssel ((Ro)) nach vorne gerichtet.   In dieser Form lassen sich die meisten bdelloiden Rädertiere nicht bis zur Art bestimmen.
Hier ein Bild einer kriechenden P. acuticornis (Mx: mastax mit Kauer; Sp: Sporen) :
(https://www.mikroskopie-forum.de/pictures010/279579_41962596.jpg)
2. Kopf: 
bei den meisten bdelloiden Rädertieren (Ausnahme: Adinetidae) ist der Kopf des rädernden Tieres durch die Korona  bestimmt. Die relative Breite der Korona im Verhälnis zum  Rest des Kopfs bzw. dem gesamten Tier ist ein  arttypisches Merkmal, genauso wie der Zwischenraum zwischen  der beiden Säulen der Räderscheiben (Sulcus). Was in vielen Fällen erst auf den zweiten Blick bemerkt wird ist der Rüssel (Rostrum, Ro), der beim rädernden Tier  ,,nach oben" gerichtet ist. Je nach Fokusebene kann man auf dem auch den Dorsaltaster sehen; in dem folgenden Bild ist lediglich dessen Basis (DAB) zu sehen. Zwischen dem Rostrum und den Säulen der Räderscheiben befindet sich eine Wulst; die sog. Oberlippe (UL). Diese ist ein sehr wichtiges Merkmal zur Bestimmung bdelloider Rädertiere, da sie arttypisch sehr unterschiedlich sein kann: gebogen wie hier, ein- oder zweilappig nach vorn gerichtet, bei einer Gattung die gesamten Räderscheiben überdeckend (Scepanotrocha). 
Die Pfeilspitzen weisen noch auf ein weiteres Merkmal hin, das ich bisher nur bei P. acuticornis beobachten konnte: während bei anderen Arten durchaus mehrere Wulste zwischen Oberlippe und Säulen bis in den Sulcus weiter bauchwärts ziehen, enden bei P. acuticornis diese Strukturen vor dem Sulcus.
Auf beiden Räderscheiben befinden sich Papillen, aus denen eine oder mehrere (??Sinnes-??) Borsten herausragen. Auf dem Bild sind 2 durch den Pfeil gekennzeichnet. Diese sind nur ziemlich schwer zu erkennen; sind aber von manchen Mikroskopikern schon vor 100 Jahren erwähnt worden.
(https://www.mikroskopie-forum.de/pictures010/279579_42119052.jpg)
Hier noch ein Bild eines Viechs in Frontalansicht. Da sich die Räderscheiben  nicht  genau senkrecht zur optischen Achse befanden, sind die Wimperkränze in unterschiedlichen Fokusebenen dargestellt.  In der rechten Räderscheibe (links im Bild) ist die Papille zu sehen ; in der linken (rechts im Bild) ist der optische Querschnit der beiden Borsten erkennbar:
(https://www.mikroskopie-forum.de/pictures010/279579_43527150.jpg)
3. Rumpf: 
hier sollte man auf 3 Merkmale achten:
3.1.auffällig können Augenflecken sein, so wie sie z.B. schon im 1. Bild dieses Beitrags zu sehen sind.
3.2.der Mastax (Mx im obigen Bild) bzw. Kauer. Die Zahnformel ist ein wichtiges Bestimmungsmerkmal. P. acuticornis hat  die Kauerformel 2/2 oder 2+1 / 2+1:
(https://www.mikroskopie-forum.de/pictures010/279579_56200037.jpg)
3.3.Bei den bdelloiden Rädertieren gibt es eine Gruppe (Familie Habrotrochidae), die  kein Darmrohr hat; stattdessen befindet sich die durch den Mastax zerkleinerte Nahrung in Pillenform im Darm. Da P. acuticornis zu einer anderen Familie gehört, tritt dieses hier nicht auf.
4. Fuß: 
Die meisten Bdelloiden habe zwei Formen von Extremitäten am Fuß: Sporen und Zehen. Diese werden häufig verwechselt.  Die Zehen befinden sich ganz am Ende des Fußes; ihre Anzahl ist spezifisch für eine Gattung. Philodina hat 4 Zehen, Rotaria beispelsweise 3. Alle Bdelloiden haben zwei Sporen, die sich  vor den Zehen befinden. Die  Form und Anordnung dern Sporen ist arttypisch und sollte deshalb genau beobachtet werden. Hier nun zwei Bilder; links sind die 2 Sporen im Fokus; bei P. acuticornis sind sie relativ lang zu einer Spitze auslaufend, divergierend mit Zwischenraum.  Im rechten Bild die 4 Zehen (dT und vT). Lt. DONNER ist es typisch für P. acuticornis, dass die dorsalen Zehen (dT) immer ausgestreckt sein sollen  (was nicht bei allen Arten der Fall ist). 
(https://www.mikroskopie-forum.de/pictures010/279579_36038289.jpg),
(https://www.mikroskopie-forum.de/pictures010/279579_55909147.jpg)
Wer sich intensiver mit der Bestimmung bdelloider Rädertiere beschaftigen will, findet hier vielleicht eine Hilfestellung. Die Seiten dort sind ,,work in progress" und werden ständig weiterentwickelt:
http://www.plingfactory.de/Science/Atlas/KennkartenTiere/Rotifers/01RotEng/E-TL/ID_Bdelloid/ID/src/ID_03_Key1.html (http://www.plingfactory.de/Science/Atlas/KennkartenTiere/Rotifers/01RotEng/E-TL/ID_Bdelloid/ID/src/ID_03_Key1.html)
Apropos ,,Hart im nehmen":  
durch Zufall bin ich jetzt noch auf eine weitere Arbeit  (Exceptional in vivo catabolism of neurodegeneration-related aggregates) gestoßen, die sich mit den Nehmer-Fähigkeiten dieser Philodina  beschäftigt:
Einige werden sich vielleicht noch an die Nachrichten vom ,,Rinderwahnsinn" zu Beginn dieses Jahrtausends erinnern können. Hierfür bzw. die Creutzfeldt-Jakobs-Krankeit sind -vereinfacht gesprochen- degenerierte Proteine bzw. Prionen verantwortlich; die das Gehirn von Menschen oder Tieren befallen  und vakuolisieren.  In der o.a. Arbeit hat man diese degenerierten Proteine verschiedenen Rädertieren verabreicht. Bei monogononten Rädertieren wie beispielsweise dem im Plankton häufig zu findenden ,,Wappen-Rädertier" (Brachionus) sind diese Proteine häufig tödlich. Bdelloide Rädertiere, konkret auch P. acuticornis, verstoffwechseln diese Proteine jedoch als normale Nahrung, was bei ihnen eine signifikante Lebensverlängerung bis auf das mehr als das 3fache der ,,normalen" Lebensdauer von ca 14 Tagen bewirkt! Diese Fähigkeit ist wahrscheinlich einzigartig in der Tierwelt....
Beste Grüße
Michael Plewka
			
			
			
				Guten Abend Michael, 
ja an den Beitrag von Carsten erinnere ich mich lebhaft. Seitdem sehe ich Kaffeemaschinen mit anderen Augen.... ;D 
Dein Beitrag ist wie stets sehr anschaulich und leicht fasslich mit tollen Fotos illustriert.Und Dank natürlich auch für die neuesten Infos zum Rinderwahn. 
Schöne Abendgrüße von 
Heinrich
			
			
			
				Hallo Michael,
ein toller und interessanter Bericht, den Du uns da zeigst. Mich faszinieren dabei Deine Detailfotos, besonders die Frontalansicht des Kopfes. Diese Rädertierchen kommen mir auch ständig unter das Mikroskop, wobei ich mich einfach an ihnen erfreue. Das Bestimmen will meistens leider nicht gelingen. Erst vor kurzem holte ich aus dem Halter einer Gartenschlauchspitze in unserem Garten eine Wasserprobe und es sauste darin eine Unmenge an Rädertierchen herum. Ein tolles Spiel, das ich durch das Kleinstaquarium (ich glaube, das hast Du in Würzburg einmal vorgestellt) noch Tage beobachten konnte. 
Für alles herzlichen Dank und viele Grüße
Werner
			
			
			
				Hallo Michael,
es ist immer wieder erstaunlich, welche Nischen sich das Leben erobert! Vielen Dank fürs zeigen und vor allem vielen Dank für die Anleitungen zur Bestimmung der Bdelloidae - hier und auf Deiner hervorragenden Website.
Bisher habe ich mich noch nie an die Identifikation von Bdelloiden gewagt, aber mit Deinen schönen Anleitungen werde ich es jetzt doch mal versuchen.
Viele Grüße
Michael (Müller)
			
			
			
				hallo zusammen,
vielen Dank für die netten Rückmeldungen, die mich sehr gefreut haben!
Es gibt bei diesen Viechern, aber auch bei vielen anderen Mikroorganismen noch viele unbekannte  faszinierende  Phänomene  und Zusammenhänge zu entdecken. Es wäre schön, wenn das Interesse  daran in Zukunft auch hier in dem Forum wächst....
Beste Grüße
Michael Plewka