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Foren => Mikrofoto-Forum => Thema gestartet von: Michael Plewka in Dezember 05, 2020, 08:34:15 VORMITTAG

Titel: Rakete
Beitrag von: Michael Plewka in Dezember 05, 2020, 08:34:15 VORMITTAG
hallo zusammen,


Hier zeige ich -mal wieder- ein bdelloides Rädertier, von dem nicht klar ist, um welche Art es sich handelt:

(https://www.mikroskopie-forum.de/pictures010/289480_26239245.jpg)

weitere Bilder hier:
http://www.plingfactory.de/Science/Atlas/KennkartenTiere/Rotifers/01RotEng/source/Adineta_sp_35_cf_minor.html (http://www.plingfactory.de/Science/Atlas/KennkartenTiere/Rotifers/01RotEng/source/Adineta_sp_35_cf_minor.html)


Man kann diesen Morphotyp gewiss ohne Widerspruch dem Taxon Adineta vaga zuordnen; allein es ist nicht klar, was Adineta vaga eigentlich ist:
https://www.researchgate.net/publication/343657224_The_trouble_with_Adineta_vaga_Davis_1873_a_common_rotifer_that_cannot_be_identified_Rotifera_Bdelloidea_Adinetidae (https://www.researchgate.net/publication/343657224_The_trouble_with_Adineta_vaga_Davis_1873_a_common_rotifer_that_cannot_be_identified_Rotifera_Bdelloidea_Adinetidae)


Bei bdelloiden Rädertiere gibt es keine Männchen; Fortpflanzung findet nur durch bei den Weibchen durch Jungfernzeugung (Parthenogenese) statt; dennoch gibt es bei ihnen auch eine Evolution ("evolutional scandal"), d.h. das Erbgut verändert sich im auf der Zeit. Der Grund dafür liegt u.a. darin, dass diese Rädertiere extrem hohe Dosen an ionisierender Strahlung vertragen können. Bei dieser Bestrahlung geht zwar das Erbgut kaputt, aber die Viecher haben die relativ stark ausgeprägte Fähigkeit, dieses anschließend  reparieren zu  können, wobei dieses nicht 100% ig erfolgt, so dass Mutationen zurückbleiben, die Evolution ermöglichen.
Diese Eigenschaft ist für Tiere ziemlich einmalig und wird deshalb in verschiedenen Forschungsgruppen intensiv untersucht, u.a. in Belgien.

Und das ist der Grund, weshalb ich dieses Bild zeige: heute in ein paar Stunden wird eine Rakete zur ISS fliegen, die einige tausend Tiere, nämlich "Adineta vaga" an Bord hat. Es soll überprüft werden, ob die Fähigkeit zur Reparatur des Genoms im Weltall genauso funktioniert wie auf der Erde. Mehr dazu hier:
http://rotifer-in-space.com/rotifer-b-rob-2/ (http://rotifer-in-space.com/rotifer-b-rob-2/)


So finden -nach der berühmten Hündin "Laika"-
https://de.wikipedia.org/wiki/Laika (https://de.wikipedia.org/wiki/Laika)
mal wieder Tierversuche  im Weltall statt, wobei davon auszugehen ist, dass dieses Mal die Überlebensrate höher ist.


Beste Grüße
Michael Plewka
Titel: Re: Rakete
Beitrag von: Michael Müller in Dezember 05, 2020, 09:51:11 VORMITTAG
Hallo Michael,

da kann man ja echt gespannt sein, was das Weltraumexperiment für Ergebnisse liefert. Die Variabilität von Arten - bzw. Morphotypen - ist ein spannendes Thema.
Parthenogenese alleine erzwingt ja noch nicht, dass das Erbgut der Tochtertiere mit dem der Mutter identisch ist. Ist für bdelloide Rädertiere eine apomiktische Parthenogenese (rein mitotische Fortpflanzung) nachgewiesen? Bei automiktischer Parthenogenese (Verschmelzung zweier Zellen aus dem selben Maiose-Pfad) wäre eine genetische Variation zu erwarten. Kennst Du da vielleicht eine Literaturstelle?

Vielen Dank

Michael
Titel: Re: Rakete
Beitrag von: Holger Adelmann in Dezember 05, 2020, 10:16:29 VORMITTAG
Hallo Michael (P),

danke für den interessanten Beitrag!
Wenn man ,,adineta dna repair" bei Google suchen lässt sieht man, wie aktiv dieses Forschungsgebiet ist!
Ich habe im Bereich DNA repair Erfahrungen in der Pharmaindustrie sammeln können.
DNA repair ist ein wichtiger Fokus in der Tumortherapie (z. B. PPAR-Inhibitoren), hier geht es allerdings eher um die Einschränkung der DNA repair, die bei vielen Tumoren ohnehin reduziert ist, was diese anfälliger für den programmierten Zelltod macht.

Adineta wird also sicher noch Targets für neue Therapien liefern!

Schönen 2. Advent,
Holger
Titel: Re: Rakete
Beitrag von: SNoK / Stephan Krall in Dezember 05, 2020, 11:07:05 VORMITTAG
Lieber Michael,

ich habe kürzlich dazu in dem Buch von Jablonka/Lamb (2017), "Evolution in vier Dimemsionen" etwas Interessantes gelesen. Die Autoren schreiben dort, dass durch Austrocknung der Rädertiere der Darm porös wird, und somit DNS aus den halbverdauten Nahrungspartikeln im Darm in die Keimzellen gelangen könnte, und dadurch die DNS mit fremden Genmaterial anreichert. Das könnte einer der Gründe sein, warum man so extrem viel Fremd-DNS bakteriellen, protozoischen, pfanzlichen und pilzlichen Ursprungs im Genom der bdelloiden Rädertiere findet (S.408f).

Es gibt seit einer Reihe von Jahren, ausgehend von EvoDevo eine Gegenbewegung zum Neodarwinismus, die Erweiterte Synthese, die sehr spannend ist und mittlerweile z.T. auch Eingang in einige Lehrbücher findet, zumindest was Epigenentik angeht. Ich habe dazu mal ein kleines Papier geschrieben, das ich hier anhänge.

Stephan
Titel: Re: Rakete
Beitrag von: SNoK / Stephan Krall in Dezember 05, 2020, 11:33:52 VORMITTAG
Noch ein kleiner Nachtrag zu Tierversuchen im All. Zwischen Laika und Adesina gab es natürlich unheimlich viele Versuche mit Lebewesen im All, und nicht zuletzt die aus Versehen auf dem Mond gelandeten Bärtierchen, die jetzt vermutlich auf die Chinesen warten.

Stephan
Titel: Re: Rakete
Beitrag von: Ole Riemann in Dezember 06, 2020, 16:36:36 NACHMITTAGS
Hallo Michael,

vielen Dank für diesen Exkurs in die Fortpflanzungsbiologie der Bdelloiden. Eine Frage ist mir bei Deinen Seiten gekommen, auf die Du ja verweist. Dort ist eine Adineta sp. 35 - vermutlich als Arbeitsart - gelistet. Ich entnehme der Nummerierung, dass Du mindestens weitere 34 Morphospezies in der Gattung Adineta gefunden hast.

Wie stabil/konstant erscheinen Dir die sicherlich feinen Unterschiede zwischen den Arbeitsarten und denkst Du, diese signalisieren, dass es sich bei den unterschiedlichen Morphotypen/Arbeitsarten um stammesgeschichtlich distinkte Einheiten handelt, die zusammen genommen eine Momentaufnahme in einem Prozess fortlaufender Speziation darstellen?

Beste Grüße

Ole
Titel: Re: Rakete
Beitrag von: Michael Plewka in Dezember 06, 2020, 17:59:18 NACHMITTAGS
Hallo zusammen,

vielen Dank für die Kommentare und @ Stefan: den Anhang!

Es gäbe  da sicherlich jede Menge weiter zu diskutieren, was aber sicherlich den Rahmen dieses Forums sprengen würde. Dieses ist aber insofern müßig, als die Weiterentwicklung der Forschung  gerade in diesem Bereich lang geglaubte gesicherte Erkenntnisse auf den Kopf zu stellen scheint.
Michaels Kommentar  bzw. Frage ist dabei  eine gute Einleitung in die Thematik : bis vor kurzem hätte man die Frage nach der apomiktischen Parthenogenese mit einem klaren "Ja" beantworten können. Die zugrunde liegenden  Methoden sind dabei ausschließlich molekulargenetischer Art, es liegen also diesbezüglich keine morphologisch-histologischen Beobachtungen an Zellkernen, Chromosomen oder Embryonen vor. 

Zugegebenermaßen übersteigen die Details der entsprechenden papers meinen Horizont, ich kann lediglich mit den abstracts etwas anfangen.

Die Erkenntnis  des horizontalen Gen-Transfer (HGT), den Stefan anspricht, ist mittlerweile seit mehr als 12 Jahren bekannt  und könnte eine Erklärung für die genetische Variabilität der bdelloiden Rädertiere sein: Hier die bahnbrechende Arbeit erste Arbeit:
https://www.researchgate.net/publication/5338663_Massive_Horizontal_Gene_Transfer_in_Bdelloid_Rotifers
(https://www.researchgate.net/publication/5338663_Massive_Horizontal_Gene_Transfer_in_Bdelloid_Rotifers)

Dann vermuteten einige Wissenschaftler,  eine besondere Form der Meiose bei den als tetraploiden eingestuften bdelloiden Rädertieren gefunden zu haben:
eine gute/ verständliche Zusammenfassung gibt J.G. Umen:
https://www.the-scientist.com/news-opinion/horizontal-gene-transfer-in-bdelloid-rotifers-questioned-64483 (https://www.the-scientist.com/news-opinion/horizontal-gene-transfer-in-bdelloid-rotifers-questioned-64483)

Nun gibt es eine neue Arbeit (derjenigen  Gruppe, die auch das o.a. Experiment im Weltall macht), in der von diploiden Bdelloiden und Automixis gesprochen wird:
https://www.researchgate.net/publication/342254445_Homologous_chromosomes_in_asexual_rotifer_Adineta_vaga_suggest_automixis (https://www.researchgate.net/publication/342254445_Homologous_chromosomes_in_asexual_rotifer_Adineta_vaga_suggest_automixis)

Anzumerken ist dabei, dass die Experimente mit  verschiedenen Arten  durchgeführt worden sind, die sich teilweise morphologisch erheblich unterscheiden.
Sehr häufig wird/ wurde dabei die oben beschriebene Adineta vaga verwendet, aber häufig kommt auch Macrotrachela quadricornifera zum Einsatz, die man sehr häufig in Moos findet.
http://www.plingfactory.de/Science/Atlas/KennkartenTiere/Rotifers/01RotEng/source/Macrotrachela_quadricornifera.html (http://www.plingfactory.de/Science/Atlas/KennkartenTiere/Rotifers/01RotEng/source/Macrotrachela_quadricornifera.html)

Auch letztere Art ist schon im Weltall gewesen, hat also eine Erfahrung, von der wir nur träumen können ......!


Beste Grüße
Michael Plewka

P.S. @ Ole: die Antwort zu Deiner Frage kommt später...
Titel: Re: Rakete
Beitrag von: Michael Plewka in Dezember 08, 2020, 09:25:42 VORMITTAG
Hallo Ole,

Du hast Recht: in den letzten Jahren habe ich ca. 40 Morphotypen von Adineta gefunden, d.h. also Viecher, die jeweils   innerhalb der  mir zur Verfügung stehenden Proben  morphologisch identisch sind, sich aber von den Viechern anderer Proben morphologisch in Details unterscheiden.

Ausgangspunkt waren dabei zwei Faktoren:

1. die in der Literatur zu findende Erkenntnis, dass  allein für die Art  Adineta vaga mehr als 30 "kryptische Arten", also Taxa, die sich zwar in ihrere genetischen, nicht aber in morphologischen Eigenschaften unterscheiden lassen, nachgewiesen worden sind.

2. die Beobachtung, dass es bei der Gattung Adineta zumindest ein morphologisch leicht erkennbares Merkmal gibt, nämlich das für Rädertiere einzigartige Gebilde am Kopf, den mit "Zähnen" besetzten Harkenapparat. Der Begriff ist in "" gesetzt, weil er  zwar in der Literaur oft angesprochen worden ist, aber bisher weder  definiert worden ist, wie die Anzahl der "Zähne" ermittelt  wird, noch wurden dadurch Arten genauer definiert. Dabei ist die Anzahl dieser "Zähne" nach meinen Beobachtungen für einzelne dieser Taxa konstant, könnte also ein Artmerkmal sein, variiert aber innerhalb der Gattung von 3 bis 11 pro Apparat.

Die Frage, die sich mir daraufhin gestellt hat, war: "Wie genau sind denn diese unter (1) angesprochenen morphologischen  Merkmale untersucht worden?"

So sind mir im Lauf der Zeit bei Adineta insgesamt ca. 20 Merkmale aufgefallen, die sich beschreiben und auch messen lassen, und in denen sich diese von mir gefundenen "Arbeitsarten" unterscheiden.  Dass es dabei die Schwierigkeit gibt, diese Merkmale bei der Variabilität der Körperformen reproduzierbar zu erfassen, dürfte klar sein. Bisher ist das also nichts weiter als eine Materialsammlung, wobei einige dieser  Formen tiefgefroren auf die genetische  Untersuchung warten. Gegenwärtig versuche ich, diese Daten in einer Datenbank zu erfassen.

Die bisherige Beschreibung der ökologischen Daten des Lebensraums dieser Viecher  beschränkt sich bei Adineta weitgehend auf die Frage der Toleranz gegenüber Austrocknung und Temperaturresistenz. Über die evolutive Bedeutung dieser morphologischen Unterschiede ist mir nichts bekannt.

Interessant ist für mich in diesem Zusammenhang der Speziation ein weiteres Merkmal, das bei allen  bdelloiden Rädertieren zu finden ist und bestimmt schon jeder Tümpler gesehen hat: die Sporen.  Auch das ein Merkmal, was zur Unterscheidung von Arten herangezogen wird.  Ich kenne nicht eine einzige Arbeit,  welche die Frage nach  der Funktion dieses Merkmals stellt, geschweige denn dessen evolutive Bedeutung  diskutiert.


Beste Grüße
Michael Plewka
Titel: Re: Rakete
Beitrag von: Michael Müller in Dezember 08, 2020, 09:28:22 VORMITTAG
Hallo Michael,

vielen Dank für Deine interessanten Literaturangaben! Gerade das Problem der Variabilität treibt mich bei Gastrotrichen genauso um wie Dich bei Bdelloiden. Bei beiden Tiergruppen wurde immer eine apomiktische Parthenogenese vorausgesetzt. Das warf für mich immer eine ganze Menge Fragen auf:
Für all diese Fragen gibt es sicherlich unabhängige Antworten und Argumentationen, aber die Annahme einer Meiose beantwortet sie alle zwanglos. Deshalb ist es sehr interessant für mich, dass zumindest bei den im Vergleich zu den Gastrotrichen besser untersuchten Bdelloiden genetische Hinweise für eine Automixis gefunden wurden. Ein direkter Nachweis, also der direkte Vergleich des Genoms von Mutter und Tochter, ist wohl leider noch nicht erfolgt.

Viele Grüße

Michael Müller
Titel: Re: Rakete
Beitrag von: Michael Müller in Dezember 09, 2020, 09:27:52 VORMITTAG
Hallo Michael,

Zitat von: Michael Plewka in Dezember 08, 2020, 09:25:42 VORMITTAG
---
1. die in der Literatur zu findende Erkenntnis, dass  allein für die Art  Adineta vaga mehr als 30 "kryptische Arten", also Taxa, die sich zwar in ihrere genetischen, nicht aber in morphologischen Eigenschaften unterscheiden lassen, nachgewiesen worden sind.
...

Ich nehme an, dass diese "kryptische Arten" mit DNA-Barcoding gefunden wurden. Unabhängig von den anderen möglichen Kritikpunkten dieser Methode (www.kunz.hhu.de/fileadmin/redaktion/Fakultaeten/Mathematisch-Naturwissenschaftliche_Fakultaet/Biologie/Institute/weitere_und_ehemalige_Dozenten/Prof._Dr._Kunz/dokumente/Full_Texte/Artbegriff/6131_Genetische_Distanz_und_Artabgrenzung_EH24_277-286.pdf (http://www.kunz.hhu.de/fileadmin/redaktion/Fakultaeten/Mathematisch-Naturwissenschaftliche_Fakultaet/Biologie/Institute/weitere_und_ehemalige_Dozenten/Prof._Dr._Kunz/dokumente/Full_Texte/Artbegriff/6131_Genetische_Distanz_und_Artabgrenzung_EH24_277-286.pdf)), wundert es mich, dass dieses Verfahren auf pathenogenetische Tiere anwendbar ist. Soweit ich es verstanden hatte, beruht das Verfahren darauf, dass sich in einem Genpool die genetischen Unterschiede der miDNA immer wieder durch Genfluß ausgleichen. Erst wenn sich eine Population von der anderen trennt und einen eigenen Genpool bildet, beginnt dir "genetische Uhr" zu ticken und die Unterschiede in dem entsprechenden Markergen sind ein Maß für die Trennungszeit der Genpools und damit ein Maß für die Artabgrenzung.
Bei streng parthenogenetischen Tiere erfolgt ja gerade kein Genfluß innerhalb der Population, so dass das Barcoding nur den genetischen Abstand zwischen Individuen innerhalb der Population (oder auch unterschiedlicher Populationen) messen und eben keine Aussage über Arttrennung machen. Vielleicht habe ich da was falsch verstanden? Es ist mir natürlich klar, das das ein Thema für Spezialisten ist, aber vielleicht hast Du oder jemand anderes schon mal etwas in dieser Richtung gehört - es würde mich einfach nur interessieren, ob ich da völlig falsch liege.

Viele Grüße

Michael
Titel: Re: Rakete
Beitrag von: Ole Riemann in Dezember 10, 2020, 11:30:22 VORMITTAG
Hallo Michael (Plewka),

vielen Dank für Deine ausführliche Rückmeldung. Dass die Anzahl der Zähnchen am Harkenapparat der Adinetiden so unterschiedlich sein kann, war mir nicht bewusst. Wobei ich gestehen muss, dass ich in meinem Mikroskopikerleben nicht mehr als höchstens 2, 3 Mal eine Adineta festgeklemmt und im Detail mikroskopiert habe. Ja, dies ist sicherlich ein Merkmal, das bei Populationen, die in barcoding-Markern unterscheidbar sind, genauer untersucht werden könnte.

@Michael (Müller): Auch wenn ich auf dem Feld der Populationsgenetik sicherlich kein Experte bin, vermute ich, dass man Deinen Einwand so beantworten würde: Es ist richtig, dass genetische barcoding-Methoden Unterschiede zwischen Populationen aufdecken, die sich als Momentaufnahme in einem fortlaufenden Prozess der zunehmenden reproduktiven Isolierung deuten lassen. Man erhält somit einen Hinweis darauf, wie weit Populationen einer Art schon auf dem Weg dahin sind, selbständige Arten zu werden. Bei den parthenogentischen Bdelloiden kommt es zwar innerhalb einer Population nicht zu Genfluss zwischen den Individuen, aber alle Individuen lassen sich im idealisierten Modell auf genau ein Individuum zurückführen, das sich klonal vermehrt. Dann wären die Individuen innerhalb einer Population auch in Bezug auf barcoding-Gene identisch; gegenüber Individuen einer anderen Population ließe sich dann eine mehr oder weniger große genetische Distanz festellen. Aber - wie Du schon festgestellt hast - steht und fällt dieser Gedankengang mit der Frage, ob die Parthenogenese rein apomiktisch ist oder aber doch genetische Rekombinationen z.B. in Form von Automixis stattfinden.

Beste Grüße

Ole

Titel: Re: Rakete
Beitrag von: Michael Müller in Dezember 10, 2020, 16:47:21 NACHMITTAGS
Hallo Ole,

danke für Deine Erklärungen. Wenn ich das richtig verstanden habe, wird bei parthenogenetischen Tieren dann nicht mehr der genetische Abstand zwischen Populationen sondern zwischen den einzelnen Individuen gemessen. Auch innerhalb einer Population kann dann der Abstand beliebt groß sein (maximal bis zur "Urmutter", die die Population begründet hat). Das würde in meinen Augen bedeuten, dass jedes Individuum als eine "Mikroart" behandelt wird und man ggf. bereits innerhalb einer Population "kryptische Arten" finden könnte (ist natürlich abhängig vom Schwellenwert als auch von der Lebensdauer der Population). Da man bei den Genmarkern nur nicht funktionale Gene verwendet (man möchte den Einfluss des Selektionsdruck ausschließen und so eine konstante Mutationsrate erreichen), würde man den genetischen Abstand zum funktionalen Genom von dem Abstand der Genmarker entkoppeln, da das funktionale Genom innerhalb der Population einem gemeinsamen Selektionsdruck unterliegt.
Wenn ich nicht etwas völlig falsch verstanden habe, ist ein Barcoding bei parthenogenetischen Arten zumindest problematisch.

Zitat von: Ole Riemann in Dezember 10, 2020, 11:30:22 VORMITTAG
Aber - wie Du schon festgestellt hast - steht und fällt dieser Gedankengang mit der Frage, ob die Parthenogenese rein apomiktisch ist oder aber doch genetische Rekombinationen z.B. in Form von Automixis stattfinden.

Die Markergene liegen im Allgemeinen auf der DNA der Mitochondrien, die keiner genetischen Rekombination bei einer Meiose unterliegen. Meine Verständnisschwierigkeiten sind als unabhängig von der Art der Parthenogenese.

Viele - verwirrte - Grüße

Michael


Titel: Re: Rakete
Beitrag von: Michael Plewka in Dezember 10, 2020, 17:58:05 NACHMITTAGS
Hallo Michael,

Deine  Beiträge in diesem Thread  beinhalten  Aspekte, die ich gerne beantworten bzw. kommentieren möchte, jedoch sind die Antworten m.E. ziemlich komplex...

ich möchte vorausschicken, dass  die zeitlich letzte Arbeit, die oben erwähnt habe, von Juni dieses Jahres ist. Sie bezieht sich auf eine einzige  Bdelloiden"Art" (A.vaga). Die Bedeutung der Befunde vermag ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu beurteilen, auch liegen mir bis jetzt keine Beurteilungen von anderen Experten vor. Das gilt vor  auch für die Übertragbarkeit der Erkenntnisse auf andere Arten. Es bleibt spannend. Bis dahin gilt für mich aber deshalb weiterhin (und war bisher auch die Grundlage meiner  Beobachtungen an den Viechern) dasjenige, was bisher in der Literatur geschrieben wurde, was stichwortartig zusammengefasst so lautet.:

1. Seit ihrer Entdeckung sind bei bdelloiden Rädertieren keine Männchen gefunden worden.

2. Wie ich neulich schon mal dargestellt habe, wurden  manche bdelloide Rädertiere von verschiedenen Forschern  unter demselben Artnamen beschrieben, obwohl sie (möglicherweise) unterschiedlich aussahen; diese Unterschiede wurden dann als Variationen  einer Art interpretiert.

3. Es ergaben sich durch die Molekulargenetik  neue Erkenntnisse:  bdelloide Rädertieren vermehren sich asexuell (apomiktisch)

4. Konsequenz: Problematik der Anwendung des Artbegriffs, (welcher  bis dahin auf der Mixis basiert hatte), auf diese sich ausschließlich asexuell vermehrenden Organismen.

5. Lösungsansatz: "independentely evolving entities (IEE)", d.h. die Anwendung eines  erweiterten "Artbegriffs" für auf der Basis genetischer Unterschiede.

6. Konsequenz: die vormals als "Variationen" klassifizierten Organismen sind "Morphospezies", was sich dann mit der Definition unter (5) deckt.

7. Morphospezies haben dieselbe Morpholgie, d.h. es gibt keine Variabilität.

8. Wenn ich in meinen Proben bdelloide Rädertiere finde, die sich morphologisch von anderen unterscheiden, bezeichne ich diejenigen  als einen "Morphotyp", die untereinander gleich aussehen mit der Vermutung, dass es sich um iEE handeln kann, (zu deren Überprüfung mir aber die Resourcen fehlen);  d.h. zwei  oder mehr Individuen eines Morphotyps sind definitionsgemäß morphologisch identisch. 



In Deinen Beiträgen hier tritt mehrfach  der Begriff "Variabiltät auf, z.B.:
ZitatDie Variabilität von Arten - bzw. Morphotypen - ist ein spannendes Thema.


(ich hatte den Begriff ebenfalls verwendet, aber  im Zusammenhang mit der biometrischen Erfassung von Körpermerkmalen. Es dürfte somitklar sein, dass sich diese "Variabilität der Körperformen"  auf ein Individuum bezieht, das beim Strudeln andere Körpermaße hat als beim Kriechen/ als beim Schwimmen, so dass man die Bedingungen definieren muss, unter denen die Körpermaße ermittelt werden) 


Ich halte es für unabdingbar, im Zusammenhang mit diesem Thema die Begriffe: "Variabilität" und "Variationen" gezielt zu verwenden.

Zu Deinen Fragen:

zu 1
ZitatWoher kommt die große Variabilität, wenn die Nachkommen genetische Klone sind?
Was verstehts Du unter diesem Begriff: "Variabilität" ?
Hast Du bei Deinen Untersuchungen diese "große Variabilität" beobachtet? Konkrete Literatur dazu wäre sehr interessant.  Hast Du jemals in einem Klon, d.h. also in einer Kultur,  von der Du sicher weißt, dass sie aus nur einem Individuum entstanden ist, Variationen der Morphologie beobachten können?
Ich habe bisher erst zweimal bei bdelloiden Rädertieren die Gelegenheit gehabt, das ziemlich genau an jeweils 25 Individuen zu prüfen (war eine ziemliche Arbeit), und in beiden Fällen habe ich überhaupt keine morphologischen Unterschiede feststellen können

Das Konzept der "kryptischen Arten" bedeutet ja nichts anderes, als dass diese von Dir behauptete Variabilität gerade nicht vorliegt. Soll heißen: die Arbeiten, die sich damit beschaftigen , z.B. hier:
https://www.researchgate.net/publication/5766422_Cryptic_diversification_in_ancient_asexuals_evidence_from_the_bdelloid_rotifer_Philodina_flaviceps (https://www.researchgate.net/publication/5766422_Cryptic_diversification_in_ancient_asexuals_evidence_from_the_bdelloid_rotifer_Philodina_flaviceps)

basieren auf Proben aus unterschiedlichen Habitaten mit Individuen einer "Art", die sich morphologisch nicht unterscheiden lassen.



zu 2.
ZitatWoher kommt der mikroskopisch beobachtbare Polkörper in den Eieren (auch bei Bdelloiden), wenn keine Meiose stattfindet?
zur Oogenese bei Bdelloiden gibt nur wenig Literatur. Vielleicht hilft das:

https://www.researchgate.net/publication/289904206_Oogenesis_in_Macrotrachela_quadricornifera_Rotifera_Bdelloidea


zu3.
ZitatWarum gibt es Eierstöcke, wenn doch jede Zelle zur einfachen Mitose fähig sein sollte (ähnlich wie bei Ablegern von Pflanzen)?
Das ist mal wieder eine "Warum"-Frage. Auf die es prinzipiell zwei unterschiedliche Bereiche von Antworten gibt: 1. Funktion; 2. Ursache.

Bei Rädertieren herscht Eutelie, d.h. die Anzahl von Zell(kern)en ist für eine Art konstant. Daraus ergibt sich zunächst einmal, dass die zukünftigen Fortpflanzungszellen schon während der Embryogenese angelegt werden und ihre Anzahl damit ebenfalls schon festgelegt ist. Diese Fortpflanzungszellen werden im Eierstock gespeichert.

Die Funktion ist somit  wohl klar: eine Eizelle muss  mit Nährstoffen für den Embryo versorgt werden, das passiert im Eierstock.
Das weiß das Rädertier natürlich nicht und damit zur Ursache:
Selbstverständlich wachsen  auch bei Pflanzen/ Turbellarien /Hydren etc.  nicht unkontrolliert Zellen zu Ablegern heran (sowas würde man als "Krebs" bezeichnen), sondern dafür müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein. Letztendlich basiert diese "Kontrolle" auf einem  (auch wiederum genetisch kontrollierten) System der Diffusion und damit der Konzentration von Stoffen (Hormonen etc.). Man kann unter diesem Gesichtspunkt den Eierstock also als einen Ort ansehen, der eine Konzentration bestimmter Stoffe bewirkt, so dass die Eizelle erst zu einer bestimmten  Zeit reift.

zu 4.
ZitatWoher kommt der horizontale Gentransfer bei Bdelloiden, die nicht austrocknen (also z. B. bei aquatischen Arten)?

Horizontaler Gentransfer (HGT) ist bei  Arten, die resistent gegenüber Austrocknung sind, in einem höheren Maß festgestellt worden als bei nicht-resistenten Arten, wobei in der letzten Gruppe ebenfalls HGT vorhanden ist.  Dieser HGT findet  bereits seit Millionen von Jahren statt.  Das bedeutet, dass dasjenige, was wir heute auf genetischer Basis sehen,  sich im Laufe von Jahrmillionen akkumuliert hat. Das bedeutet aber auch, dass die ökologische Präferenz der Vorfahren der heutigen Arten damals anders ausgesehen haben kann als heute.
Siehe hier:
https://www.researchgate.net/publication/283489022_Horizontal_gene_transfer_in_bdelloid_rotifers_is_ancient_ongoing_and_more_frequent_in_species_from_desiccating_habitats
(https://www.researchgate.net/publication/283489022_Horizontal_gene_transfer_in_bdelloid_rotifers_is_ancient_ongoing_and_more_frequent_in_species_from_desiccating_habitats)

zum Barcoding

Ole hat da ja mittlerweile auch was zu geschrieben. Deinen soeben eingestellten Beitrag kann ich (noch) nicht so richtig nachvollziehen. Es scheint da Schwierigkeiten mit den Begrifflichkeiten zu geben. Ich möchte aber an dieser Stelle noch folgende einfache Sachverhalte   zu bedenken geben: Die biochemische Methode der Sequenzanalyse  ist -abgesehen von technischen Schwierigkeiten-  prinzipiell mit jedem Organismus durchführbar. Mittlerweile kann man das angeblich sogar bei so kleinen Organismen wie Rädertieren  mit einzelnen Individuen machen. Theoretisch könnte man also aus einem Wassertropfen Hunderte von Sequenzanalysen machen, vorausgesetzt, man kriegt die Viecher gereinigt und entsprechend aufgearbeitet und hat die nötige Zeit und das entsprechende Geld. Warum verwundert es dann, dass dieses Verfahren auch auf sich asexuell fortpflanzende Organismen angewendet wird?
Als  Ergebnis erhält man dann eine Nucleinbasensequenz. Diese Daten (Gensequenzen) sind in Genbanken sogar öffentlich zugänglich. Die Auswertung  dieser Daten im Hinblick auf (evolutions-) biologische Aspekte ist davon zunächst einmal völlig losgelöst.

Beste Grüße
Michael Plewka
Titel: Re: Rakete
Beitrag von: Michael Müller in Dezember 11, 2020, 10:06:02 VORMITTAG
Hallo Michael,

vielen Dank für Deine ausführliche Antwort, die sehr viele Punkte umfasst, deren Erörterung den Rahmen eines Beitrags im Forum wohl sprengen würde. Deshalb möchte ich mich nur auf einige Themen beschränken.

Zitat von: Michael Plewka in Dezember 10, 2020, 17:58:05 NACHMITTAGS
Ich halte es für unabdingbar, im Zusammenhang mit diesem Thema die Begriffe: "Variabilität" und "Variationen" gezielt zu verwenden.

Variabilität einer Art ist ein Maß für Spannbreite der Variationen. So widmet z.B. Donner in seinem Buch über Bdelloide ein ganzes Kapitel der große "Variabilität" der Bdelloiden (Seite 14). Innerhalb jeder Art gibt es Variationen - kein Individuum gleicht bis ins Detail einem anderen. Ohne Variationen gibt es keine Evolution.
Der Grund für diese Variabilität (bzw. der Variationen) ist ein komplexes Zusammenspiel zwischen den Genen und der Umweltfaktoren, die z.B. während der Entwicklung der Tiere die Genexpression steuern. Selbst genetische Clone entwickeln sich zu unterschiedlichen Phänotypen (Varianten) - sehr zum Leidwesen von Haustierbesitzern, die ihre Lieblinge nach deren Tod klonen lassen. Welche Variationen zu einer Art zählen, ist dabei aber beileibe nicht willkürlich. Eine Art ist (im einfachsten Fall) als eine Genfluß-Gemeinschaft definiert. Variationen, die sich prinzipiell erfolgreich untereinander fortpflanzen, gehören deshalb der selben Art an - egal wie groß die morphologischen Unterschiede sein mögen. Das gilt auch für völlig unterschiedliche Morphen wie Raupe und Schmetterling oder Ei und Henne.

Zitat von: Michael Plewka in Dezember 10, 2020, 17:58:05 NACHMITTAGS
Was verstehts Du unter diesem Begriff: "Variabilität" ?
Hast Du bei Deinen Untersuchungen diese "große Variabilität" beobachtet? Konkrete Literatur dazu wäre sehr interessant.  Hast Du jemals in einem Klon, d.h. also in einer Kultur,  von der Du sicher weißt, dass sie aus nur einem Individuum entstanden ist, Variationen der Morphologie beobachten können?
Ich habe bisher erst zweimal bei bdelloiden Rädertieren die Gelegenheit gehabt, das ziemlich genau an jeweils 25 Individuen zu prüfen (war eine ziemliche Arbeit), und in beiden Fällen habe ich überhaupt keine morphologischen Unterschiede feststellen können

Das Konzept der "kryptischen Arten" bedeutet ja nichts anderes, als dass diese von Dir behauptete Variabilität gerade nicht vorliegt.

Die Variabilität von Arten beobachtet man jeden Tag - Menschen haben unterschiedliche Haarfarbe und können sich dennoch untereinander fortpflanzen; sie gehören der selben Art an. Auch bei Klonen ist sehr oft von einer Variabilität berichtet worden. Die Ausprägung der Artmerkmale wird durch Umweltfaktoren beeinflusst. Das ist auch ein Mechanismus, der für die Evolution absolut notwendig ist. Ohne Varianten gibt es keine Selektion.

Meinen Punkt zum Barcoding habe ich anscheinend nicht klar genug formuliert bzw. zuviel vorausgesetzt. Deshalb möchte ich mich hier auf den schwankenden Boden meiner Wikipedia-gespeisten Weisheit begeben und versuchen das Barcoding näher zu erläutern. Ich bin da keinem böse, der meine Ausführungen korrigiert - so sicher bin ich mir hier nicht!

Beim genetischen Barcoding geht es nicht um einen Vergleich des Genoms zweier Individuen. Eine vollständige Sequenzierung wäre viel zu aufwändig und ein direkter Vergleich des Genoms viel zu schwierig, da die einzelnen Sequenzen unterschiedliche Relevanz haben. Bei Barcoding geht es darum, ein Maß für die Zeit zu ermitteln, seit der sich die genetischen Linien zweier Individuen voneinander getrennt haben. Dazu werden Markergene verglichen, die einer möglichst konstanten Mutationrate unterliegen. Bestimmt man nun in diesem kurzen Genabschnitt die Anzahl der Mutationen im Vergleich zum andern Individuum, ist das ein Maß dafür, wie lange sich die genetischen Linien getrennt entwickelt haben.
Um eine konstante Mutationsrate zu haben, ist die Wahl des richtigen Gens kritisch. Um genetische Variationen bzw. Rekombinationen bei der Fortpflanzung auszuschließen, verwendet man ein Gen der DNA der Mitochondrien (mtDNA), da diese DNA unverändert an die Nachkommen weitergegeben wird. Zum anderen muss man ein Gen wählen, dass nicht durch die Umweltfaktoren verändert wird, also nicht dem Selektionsdruck unterliegt. Das erreicht man, indem man ein nicht (mehr) funktionales Gen wählt, das nicht zur Produktion von Eiweiß verwendet wird. Eine Änderung diese Gen hat dann keine Auswirkung auf den Phänotyp und deshalb wird keine Variante des Gens durch die Evolution bevorzugt. "Von den 13 proteincodierenden Genen der mtDNA wird als Standard eine 648 Basenpaare (abgekürzt: bp) lange Region des Gens der Untereinheit I der Cytochrom c Oxidase (COI oder cox1) verwendet..." (Wikipedia).
Diese 648 Basenpaaren stellen nun den "Barcode" dar. Innerhalb einer Genfluß-Gemeinschaft (= Art) gleicht sich dieser Barcode unter ihren Mitgliedern kontinuierlich an, so dass dieser Barcode ein sehr selektives Artmerkmal darstellt und zur Artdiagnose verwendet werden kann.
Verlässt nun ein Individuum den Genpool und gründet - z.B. in einem anderen Habitat - eine neue Genfluß-Gemeinschaft, beginnt sich eine neue Art zu entwickeln. Da diese Individuen nicht mehr der ursprünglichen Genfluß-Gemeinschaft angehören, beginnt gleichzeitig die "Mutation-Uhr" in dem Markergen zu ticken. Vergleicht man nun die Markergene (nach hinlänglich langer Trennungzeit) auf Mutationen, gewinnt man ein Maß für die Trennungszeit.
In der sog. "Turbo-Taxonomie" wird nun der Barcode nicht mehr nur als ein Artmerkmal unter vielen angesehen, sondern man "definiert" eine neue Art, wenn der Barcode "hinreichend" unterschiedlich ist - ohne Rücksicht über den in den letzten 100 Jahren mühsam erkämpften Artbegriff der Taxonomie.

Wie reihen sich hier nun die parthenogenetischen Arten ein, bei denen gerade kein Genfluß die genetischen Unterschiede nivelliert?
Parthenogenetische Arten waren auch in der "traditionellen" Taxonomie ein Problem, da hier die Arten nicht mehr als Genfluß-Gemeinschaft definiert werden konnten. Dennoch brauchte man ein - zumindest prinzipiell - experimentell überprüfbares Kriterium, das ein Individuum eindeutig in eine Art einordnet; ansonsten wäre es sinnlos, überhaupt von Arten zu sprechen, da diese dann nur ein willkürliches Einteilungsschema von Taxonomen wäre, das keine Entsprechung in der Natur hätte. Deshalb definierte man parthenogenetische Arten ökologisch:
Wenn sich in einem Habitat zwei Arten die selbe ökologische Nische teilen, wird die eine Art die andere verdrängen. Deshalb sind die parthenogenetischen Individuen, die sich in einem Habitat eine ökologische Nische teilen, Mitglieder der selben Art. Da die besonderen Bedingungen in der ökologischen Nische die Morphologie der Bewohner der Nische bestimmen, kommt es - unabhängig von der Genetik - zu einer Artbildung.
Wie auch immer man zu diesem Artbegriff stehen mag, für das Barcoding tut sich hier ein Problem auf: Barcoding misst nur den genetischen Abstand der Individuen, da es zu keiner genetischen Nivellierung innerhalb der Art kommt. Greift man in einem Habitat zwei parthenogenetische Individuen heraus und misst den Abstand, so kann alles herauskommen von "kein Abstand", wenn die beiden Individuen zufällig Schwestern sind bis zu einem maximalen Abstand, wenn sich die genetische Linie der beiden Individuen bei der "Urmutter" des Habitat (die das Habitat begründet hat) gekreuzt haben. Noch schlimmer - nach dem obigen "traditionellen" Artbegriff müssen die beiden Individuen nicht einmal genetisch verwandt sein; ihre Morpologie könnte durch die Bedingungen im Habitat angeglichen worden sein. Vielleicht hat sich aber auch das Genom durch den gemeinsamen Selektionsdruck aneinander angleichen. Zumindest misst das Barcoding nun nicht mehr den Abstand von Arten sondern nur noch den Abstand von Individuen. Das ist der Grund, warum ich mich gewundert habe, dass das Barcoding auch bei parthenogenetischen Arten Anwendung findet,

Ich hoffe meinen Punkt jetzt klarer gemacht zu haben:
Barcoding misst den Abstand von genetischen Linien; bei nicht parthenogentischen Arten entspricht das dem Abstand von Genfluß-Arten. Bei parthenogenetischen aber dem Abstand von Individuen und nicht von Arten.

Viele Grüße

Michael
Titel: Re: Rakete
Beitrag von: Michael Plewka in Dezember 12, 2020, 07:09:14 VORMITTAG
Hallo Michael,



1. Variabilität

In diesem Thread geht es um  bdelloide Rädertiere, bei denen die seit ca. 20 Jahren etablierte Erkenntnis besteht, dass sie sich asexuell fortpflanzen. Die seitdem publizierten Arbeiten (bis auf die o.a. erwähnte) zu Bdelloiden beruhen auf dieser Erkenntnis.  Deshalb auch die Problematik des Artbegriffs. Donner und alle Rotiferologen bis ca. 2000 wussten das nicht, sind also von der   (bei sich sexuell vermehrenden Arten üblichen) Variabilität   von Arten  ausgegangen und haben deshalb von  Varianten einer Art gesprochen und diese Varianten dann auch so benannt. Das wird aber im Lichte der heutigen Erkenntnisse anders gesehen. Kein Rotiferologe wendet heute den Begriff der Variation auf Bdelloide an. Angesichts der o.a. Erkenntnis werden heute   bei sich asexuell fortpflanzenden  Organismen ausschließlich neue Arten beschrieben, keine Varianten. 

Insofern ergibt sowohl das Beispiel  von Donner, als auch die Erwähnung der Variabilität von sich sexuell vermehrenden  Organismen  im Zusammenhang mit diesem Thread überhaupt keinen Sinn. Wie schon gesagt, widersprechen Deine Aussagen außerdem den Erkenntnissen zu den kryptischen Arten.
Eine konkrete Antwort auf meine konkreten Fragen fehlt.


2. Barcoding

Zitat.....Innerhalb einer Genfluß-Gemeinschaft (= Art) gleicht sich dieser Barcode unter ihren Mitgliedern kontinuierlich an, .....

Einen solchen Prozess gibt es nicht.  Insofern basiert ein Großteil Deiner Überlegungen auf falschen Voraussetzungen.



Beste Grüße
Michael Plewka
Titel: Re: Rakete
Beitrag von: Michael Müller in Dezember 12, 2020, 18:13:10 NACHMITTAGS
Hallo Michael,

danke für Deine Antwort - jetzt beginne ich langsam zu verstehen. Mir war nicht klar, dass man bei Bdelloiden das "klassische" Artkonzept aufgegeben hat und die "Art" in genetisch unabhängige Varianten aufgeteilt hat. So kann dann jeder Variante ein eigener Barcode zugewiesen werden und es verwundert nicht, dass man dann viele kryptische Arten (bzw. kryptische Varianten) erhält.

Dadurch gibt es natürlich kein Problem für das genetische Barcoding...

Ein schönes Wochenende

Michael