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Foren => Mikrofoto-Forum => Thema gestartet von: Michael Plewka in Dezember 02, 2021, 12:11:56 NACHMITTAGS

Titel: Tridens mit ohne 3 Zähne
Beitrag von: Michael Plewka in Dezember 02, 2021, 12:11:56 NACHMITTAGS
Im folgenden möchte ich auf eine weitere interessante Beobachtung aus dem Planktonkurs am Heiligen Meer hinweisen,  bei der es   wahrscheinlich  nicht auf den ersten Blick zu erkennen ist, worin die Besonderheit besteht; deshalb  ein paar Erläuterungen dazu.

Das Rädertier   Rotaria  ist eines der am häufigsten anzutreffenden Rädertiere  in stehenden Gewässern.  Wahrscheinlich haben bereits alle Tümpelnden ein solches gesehen. Alle Arten dieser Gattung vermehren sich lebendgebärend;  Schwangerschaft ist bei diesen Viechern quasi der Normalfall, so  dass man   häufiger   schwangere Weibchen   antrifft als nicht-schwangere.  Auch das  hier gezeigte Tier ist schwanger, was sich an den Augenflecken (Pfeilkopf) und dem Kauer (Pfeil) der Tochter erkennen lässt:

(https://www.mikroskopie-forum.de/pictures012/313894_7244975.jpg)


Alle bdelloiden Rädertiere haben einen  sogenannten ramaten Kauer, der durch die Kauerformel   beschrieben wird. Dabei ergibt sich die Kauerformel durch die Anzahl der großen Zähne (maT) des linken und rechten Uncus (U):

(https://www.mikroskopie-forum.de/pictures012/313894_65204782.jpg)
Es bedeuten: Br: Gehirn mit sichtbaren Zellkernen der Nervenzellen; BT: Rachen (buccal tube); MG: Magendrüsen;  mAT Zähne des Kauers (major teeth) ; miT: Zähnchen des Kauer (minor teeth) Mu: Magen-Muskeln; pE: Magenepithel;  Ra: Rami; U: Unci




Innerhalb der gesamten Gruppe der bdelloiden Rädertieren variiert  die Kauerformel von 1/1 bis ca. 10/10, sie z.B. hier:

https://www.plingfactory.de/Science/Atlas/KennkartenTiere/Rotifers/01RotEng/E-TL/ID_Bdelloid/ID/01_Key/DF_Genus/ID_04%20DentalF.html (https://www.plingfactory.de/Science/Atlas/KennkartenTiere/Rotifers/01RotEng/E-TL/ID_Bdelloid/ID/01_Key/DF_Genus/ID_04%20DentalF.html)

Dabei galt es bisher als gesichert, dass die Kauerformel artkonstant ist,  so dass  über bestimmte Kauerformeln auch  die Rädertier-Art bestimmt oder zumindest eingegrenzt werden kann.
Für alle Arten der Gattung  Rotaria ist diese Kauerformel  konstant 2/2, bis auf die eine Art: Rotaria tridens mit der Kauerformel 3/3.
Hier nun das Bild eines bereits letal gequetschten schwangeren Viechs von Rotaria tridens : Erkennbar sind 2 Kauer: links derjenige des Tochterembryos, rechts: der Kauer der Mutter.

(https://www.mikroskopie-forum.de/pictures012/313894_49972132.jpg)


Zweifelsfrei ist die Kauerformel  der Mutter 3/3; man kann also davon ausgehen, dass es sich wirklich um die Art Rotaria tridens handelt; auch einige andere Merkmale sprechen dafür. Diese Art ist von diesem Gebiet NSG Heiliges Meer noch nicht bekannt;   selbst der Rädertierforscher  Koste, der oft am Heiligen Meer gewesen, hat sie dort nicht gefunden. 
Der Kauer des Tochterembryos  dagegen hat eindeutig die Kauerformel 3/2. Die Konsequenz ist, dass die Tochter eine andere Kauerformel als die Mutter (gehabt ) hätte (was leider aufgrund der Präparation nicht mehr möglich ist.). Es liegt hier also wirklich bei dieser Rädertierart eine Variabilität vor.

Diese Beobachtung  mag zunächst  ziemlich banal erscheinen; Variationen findet man bei den meisten Lebewesen.
Im Fall der bdelloiden Rädertiere ist das anders: diese vermehren sich asexuell (nach derzeitigem Kenntnisstand mitotisch) ohne Männchen, d.h. die   Töchter sind Klone der Mutter; sind deshalb sind sowohl genetisch identisch mit der Mutter, als auch morphologisch. Demzufolge  müsste die Kauerformel der Tochter mit derjenigen der Mutter übereinstimmen, was bei den meisten bdelloiden Rädertieren auch der Fall ist.  Hier, d.h. also in dieser Probe ist das anders. 

Ist das eine Ausnahme? Zumindest bei dieser Art nicht. Ich habe deshalb ca 15  solcher Mutter-Tochter - Paare auf  die Kauer hin untersucht und dabei sämtliche Kombinationsmöglichkeinen von 2 und 3 gefunden, außer  die Kauerformel 2/2. Es ist also nicht nur eine Reduktion der Zähne möglich, sondern ich konnte auch Fälle beobachten, wo die Mutter die Kauerformel 3/2 hatte, die Tochter jedoch 3/3. 
Weitere Infos hier:
https://www.plingfactory.de/Science/Atlas/KennkartenTiere/Rotifers/01RotEng/source/Rotaria%20tridens.html (https://www.plingfactory.de/Science/Atlas/KennkartenTiere/Rotifers/01RotEng/source/Rotaria%20tridens.html)


Interessanterweise ist dieses Phänomen bisher noch niemandem aufgefallen.


Wenn man also im Wassertropfen oder in anderen Proben bdelloide Rädertiere findet, so wird man immer die Gelegenheit haben, sich den Kauer  anzusehen bzw. die Kauerformel bestimmen zu können. Wahrscheinlich wird man dann auch unterschiedliche Kauerformeln beobachten können. Dann kann man versuchen herauszufinden, ob es verschiedene Arten sind oder Variationen einer Art. Bei Arten, die sich eierlegend fortpflanzen, ist es dabei praktisch unmöglich, eine Variabilität (auf morphologischer Ebene) nachzuweisen. Dieses kann, wie zuvor dargestellt, nur bei Arten gezeigt werden, bei denen  Viviparie vorliegt, so dass Mutter und Tochter direkt verglichen werden können; z.B. bei den Gattungen Rotaria oder auch z.B. Dissotrocha.

Dieses scheint nun mit dem obigen Bild zum ersten Mal belegt worden zu sein.

Es stellt sich  deshalb somit  die Frage nach der Ursache für diese Variationen. Gibt es ein Gen für Variationen? Oder hat eine Form der Mixis stattgefunden, d.h. also doch eine Form der sexuellen Fortpflanzung bei bdelloiden Rädertieren?  Es bleibt spannend......


Beste Grüße
Michael Plewka
Titel: Re: Tridens mit ohne 3 Zähne
Beitrag von: Ole Riemann in Dezember 02, 2021, 13:48:20 NACHMITTAGS
Hallo Michael,

sehr spannend - danke fürs Zeigen!

Die ganzen problematischen Aspekte im Umfeld Deiner Beobachtung (Artkonzept bei parthenogenetischen Organismen, vielleicht doch versteckte Mixis bei Bdelloiden? Kryptische Artbildung ... ) will ich außen vor lassen; ich habe darauf selbst keine Antworten. Aber eine Frage hat mich bei der scheinbar griffigen Zahnformel der Bdelloiden immer schon bewegt: Die Hauptzähne im Uncus, die für die Formel gezählt werden, sind doch ebenso Uncuszähne wie die Nebenzähne und unterscheiden sich von ihnen nur durch ihre Dicke/Stärke. Sind die Übergänge zwischen Haupt- und Nebenzähnen nicht fließend, oder anders: Ist es immer eindeutig, was Haupt- und was Nebenzahn ist?

Kann es nicht sein, dass das gequetschte Jungtier in seiner Entwicklung noch nicht ganz so weit war, zu beiden Seiten 3 Hauptzähne im Uncus zu entwickeln? Gerade wenn die Trophi durch sukzessive Ablagerung/Abscheidung von Chitin durch Epithelzellen gebildet werden, sollte es nicht verwundern, dass sich in unterschiedlichen Ontogenesestadien im Detail unterschiedliche Entwicklungsstufen der Kauerhartteile nachweisen lassen. Oder einfacher gesagt: Wäre das Jungtier - wenn es nur Zeit gehabt hätte, sich zu Ende zu entwickeln - nicht vielleicht auch mit 3+3 auf die Welt gekommen?

Deine Beobachtung, dass es offenbar auch Mütter mit 3+2 gibt, lässt jedoch den Schluss zu, dass es wohl nicht so einfach ist.

Schöne Grüße

Ole



Titel: Re: Tridens mit ohne 3 Zähne
Beitrag von: Michael Plewka in Dezember 03, 2021, 19:40:51 NACHMITTAGS
Hallo Ole,

vielen Dank für Deine Rückmeldung,

Du kennst Dich ja selbst sehr gut mit der Ontogenese der (monogononten) Rädertiere aus, bei denen die Bildung der Kauerteile nach dem von Dir beschriebenen Prozess abläuft. Soweit ich D. Fontaneto (der die Kauer der Bdelloiden ziemlich genau untersucht hat) verstanden habe, ist das beim Kauer der Bdelloiden etwas anders: die Hauptzähne entstehen nicht durch zeitlich längeres Aufschichten von Chitin auf eine Matrix, sondern in der anfangs  homogenen Uncistruktur aus m.o.w. gleich dicken "Nebenzähnen" werden artspezifisch einige Nebenzähne davon jeweils zu einem Hauptzahn kombiniert. Manche Hauptzähne  der Bdelloiden-Kauer lassen sich  im REM  in eben dieser Weise interpretieren.  Deshalb gibt es  eigentlich kein Kontinuum in der Dicke der Hauptzähne, sondern diskrete Stufen. Bei den Habrotrochiden ist das möglicherweise noch anders...Jedoch wenn die Unci gebogen sind, ist die Analyse vor allem am lebenden Tier nicht immer möglich; da hilft dann nur die Presse....

Deine Frage(n) zur Entwicklung des Jungtiers habe ich mir während der Beobachtungen ebenfalls gestellt; ist ja naheliegend.  Die Antwort: "Nein" ergibt sich aus der Kombination von Überlegungen (d.h. Dein Ausschluss von Überlegungen ist in diesem Fall m.E. nicht zielführend) , die zusammen mit den weiteren Bildern hier dargestellt sind:
https://www.plingfactory.de/Science/Atlas/KennkartenTiere/Rotifers/01RotEng/source/Rotaria%20tridens.html (https://www.plingfactory.de/Science/Atlas/KennkartenTiere/Rotifers/01RotEng/source/Rotaria%20tridens.html)

Dort zeigen die beiden letzten Bilder von den Kauern zweier Embryonen, dass diese  zumindest insofern in einem ähnlichem Entwicklungsstadium sind, weil die Manubrien noch in beiden noch nicht ausgebildet sind. Dennoch ist eine unterschiedliche Anzahl von Hauptzähnen vorhanden, die Kauerformel  der Embryonen in diesem Entwicklungsstadium ist (also bereits)  unterschiedlich.

Angenommen,  ich finde nun in einer Probe, die einige Rotaria-Viecher enthält, welche  die Kauerformel 3/3 haben und die ich nach "amtlicher" Literatur demzufolge als R. tridens (welche als einzige Rotaria-Art die ausschließliche Kauerformel 3/3 hat) bestimmt habe, eine weiteres Viech, das genauso aussieht, aber die Kauerformel 3/2 hat: ist das dann Rotaria tridens? (Artkonzept!!!!!) Zunächst ist das zweifelhaft.

Wenn ich nun aber in  demselben Tier  einen Embryo finde, welcher eindeutig die Kauerformel 3/3 hat,  ergibt sich zwingend die Schussfolgerung, dass

1. die Kauerformel von Mutter zu Tochter geändert ist (hier gilt das Argument: noch nicht entwickelt" m.E. nicht; d.h. es gibt eine Variabilität bei dieser Art.
(trotz ?apomiktischer? Fortpflanzung).

2. bei der Art R. tridens treten unterschiedliche Kauerformeln auf.

Und ich betone noch einmal: diese Beobachtungen sind nur bei solchen Arten  eindeutig zu interpretieren, bei denen die Individuen von zwei Generationen  eindeutig zusammengehören, also bei viviparen Arten, kann also jeder Tümpler an dem "Rädertierchen" überprüfen ....


Beste Grüße
Michael Plewka
Titel: Re: Tridens mit ohne 3 Zähne
Beitrag von: Ole Riemann in Dezember 04, 2021, 12:06:05 NACHMITTAGS
Lieber Michael,

vielen Dank für die Erklärung des Mechanismus, der in der Embryonalentwicklung für das Herausarbeiten der Struktur der Bdelloiden-Kauer zuständig ist. Das wusste ich so nicht, und es klingt überzeugend.

"Dein Ausschluss von Überlegungen ist in diesem Fall m.E. nicht zielführend" - das stimmt natürlich. Wenn man nicht überlegt, ist das grundsätzlich selten gut. So ganz genau habe ich aber nicht verstanden, was Du mir damit sagen willst. Wenn Du damit meinst, dass ich meine Antwort nicht in allen Aspekten logisch stringent durchdacht habe, bevor ich sie formuliert habe, kann ich dem gut zustimmen. Zumindest als Liebhabermikroskopiker genehmige ich mir diese Nachlässigkeit.

Beste Grüße

Ole

EDIT 5.12.2021: Ich weiß jetzt, worauf sich Michaels Einwand bezogen hat - nämlich darauf, dass genau die "problematischen Aspekte" (Artkonzept bei parthenogenetischen Organismen, vielleicht doch versteckte Mixis bei Bdelloiden? Kryptische Artbildung), die ich mit leichter Hand übergehe, im Mittelpunkt seiner Beobachtungen stehen bzw. dass seine Beobachtungen zur Beantwortung genau dieser Fragen beitragen sollen. Insofern ist mein Beitrag in diesem Faden keine sinnvolle Ergänzung.