David und Goliath oder: Home, sweet home !!

Begonnen von Michael Plewka, Mai 14, 2012, 19:44:55 NACHMITTAGS

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Michael Plewka

Liebe Tümplerinnen und Tümpler,

neulich gab es mal einen Thread zum Thema: Einzeller - Vielzeller. Viel wurde dort über die Vorteile/Nachteile der zwei "Lebenskonzepte" spekuliert. Am Beispiel des folgenden Einzellers soll auf einen weiteren Aspekt diesbezüglich hingewiesen werden.

Der Ciliat Stichotricha aculeata ist ein hypotricher Ciliat, der ein Gehäuse baut. Es scheint so, dass dieser Ciliat einen klebrigen Stoff (Schleim?) absondert, der Detritus zunächst locker bindet. Dadurch, dass das Viech in diesem Schleim-Detritus-Gemisch flaschenputzerartig hin- und herwandert, entsteht der Hohlraum der Wohnröhre. Offenbar wird durch diese Aktivität der Schleim verdichtet und härtet zudem aus, so dass aus dem lockeren Schleimballen im Lauf der Zeit ein m.o.w. festes Gehäuse wird.  
Hier ein Bild:




Zu diesem Thema gibt es im www. eine Menge Anekdoten (auch aus diesem Forum), womit ich zum eigentlichen Thema komme:

Das Verhalten von Einzellern.


Zunächst einmal wäre die Frage zu klären, ob der Wohnröhrenbau überhaupt als "Verhalten" bezeichnet werden kann.  Schließlich reagiert ja auch das Blatt einer Mimose auf die Umwelt, ohne dass dieses als Verhalten charakterisiert wird, da die neuronale Grundlage fehlt.

Nimmt man hilfsweise auf die Schnelle die diesbezügliche Definition der wikipedia:
Zitat"In der Verhaltensbiologie bezeichnet der Begriff Verhaltensweise jede beobachtbare Bewegungsabfolge eines Tieres oder eines Einzellers, die von einer anderen Bewegungsabfolge unterscheidbar und daher in ein Ethogramm der betreffenden Art aufgenommen werden kann."
,

so haben wir es hier mit echtem Verhalten zu tun.

weiter heißt es dort :
Zitat"Verhalten ist stets an lebende Individuen oder Gruppen gebunden – auch Steine können von einer Klippe abbrechen und sich so abwärts bewegen; diese Bewegung wurde aber vollständig von äußeren Einflüssen verursacht. Sie ist keine ,,Eigenleistung" eines aktiv agierenden oder reagierenden Subjekts, für das die als Verhalten bezeichnete Veränderung, Bewegung, Haltung oder Äußerung eine bestimmte Funktion (einen Zweck, eine Bedeutung) hat. Für eine Zecke, die sich von einem Strauch auf ein warmblütiges Tier fallen lässt, hat das Fallen hingegen zweifelsfrei eine Funktion. Der Begriff Verhalten wird daher in aller Regel nur auf Lebewesen mit der Möglichkeit zur Informationsverarbeitung, z.B. einem Nervensystem, angewandt, die zur aktiven Fortbewegung (zumindest zeitweise) fähig sind."

Zweifellos besitzt allerdings ein Einzeller  kein Nervensystem, weshalb diese Art der neuronalen Informationsverarbeitung nicht realisiert sein kann. Offenbar findet aber trotzdem eine Informationsverarbeitung statt. Dabei stellen sich  zwei Fragen.
1. Wie ist diese Informationsverarbeitung (aber auch andere Verhaltensweisen, wie z.B. das "Laufen" von Euplotes )  realisiert?
2. Wie komplex kann die Informationsverarbeitung eines Ciliaten mit Bezug zu seiner Umwelt sein?

Zur letzteren Frage: deshalb war ich ziemlich gespannt, was mit diesem Ciliaten weiter passieren würde. Zunächst einmal waren weitere Organismen in der Nähe, wie. z.B. ein weiterer hypotricher Ciliat(Stylonychia?) sowie  eine Schwebeform einer kleinen Amöbe. Stets bewegte sich Stichotricha in der Röhre; niemals außerhalb, was natürlich die Frage aufwirft, wie ein Ciliat dieses "Innen" und "Außen" erkennt.

In der Probe waren auch einige Cilaten der Gattung Loxodes unterwegs. Nach einiger Zeit hatte es eines dieser Exemplare in die Nähe des Hauses von Stichotricha verschlagen.  Hier ein Bild, das den Größenvergleich dokumentiert:



Innerhalb einiger Minuten stieß Loxodes mehrfach gegen das Gehäuse bzw. gegen Stichotricha selbst:




Anschließend konnte ich beobachten, dass Stichotricha zum ersten Mal das Gehäuse verließ. In den folgenden Minuten bewegte sich Stichotricha  in der Umgebung um das Gehäuse herum.


Würde der Ciliat in seine Wohnröre zurückfinden? oder zurückkehren?
(mir ist klar, dass diese Fragestellung der typisch menschlichen Erwartenshaltung entspringt, dass es erstrebenswert sei,  in ein Haus zurückzukehren wenn man zuvor aus diesem  Haus vertrieben wurde. Dieses muss ja für den Ciliaten gar nicht so sein...)
Zwischen den beiden folgenden Bildern  liegen ca 20 min. In dieser Zeit hatte sich Stichotricha einerseits immer häufiger von der Wohnröhre wegbewegt,




Andererseits geriet Stichotricha  wieder mal nahe an die Öffnung des Gehäuses:




Jedoch kehrte Stichotricha im Beobachtungszeitraum nicht mehr in die Wohnröhre zurück  Aus Zeitgründen konnte ich leider nicht weiter beobachten.

Vielleicht mal so als Anregung für geduldige Forscherinnen und Forscher........

Letztlich liegt ein somit großer evolutiver Selektionsvorteil der Mehrzelligkeit darin, deutlich komplexere informationsverarbeitende Systeme  entwickeln zu können, als das für Einzeler möglich erscheint.  Mehrzeller können  somit flexibler und differenzierter  auf Umweltveränderungen reagieren als Einzeller.


viel Spaß beim Anschauen & beste Grüße Michael Plewka

ruhop

Hallo, Herr Plewka.

Abgesehen davon, daß Sie hier wieder einmal großartige Fotos zeigen, werfen Sie allerdings interessante Fragen auf, die m. E. nicht so ohne weiteres zu beantworten sind.

Ich bin aber gespannt darauf, ob sich daraufhin eine Diskussion entwickelt, d. h. ob sich einer traut, den Anfang zu machen. Schon der Ansatz ist nicht einfach.

Gruß aus dem Hintertaunus

H. Penzhorn

Eckhard

#2
Hallo Michael,

schöne Bilder und eine interessante Dokumentation.

Zitat1. Wie ist diese Informationsverarbeitung (aber auch andere Verhaltensweisen, wie z.B. das "Laufen" von Euplotes )  realisiert?
2. Wie komplex kann die Informationsverarbeitung eines Ciliaten mit Bezug zu seiner Umwelt sein?

Spannendes Thema. Machen wir ein Gedankenexperiment: wir wollen ein elektrisches Schaf bauen, dass selbstständig unseren Rasen mäht.


Ansatz 1:  

Wir vermessen den Rasen, speichern den Rasenplan im Kontrollrechner des Rasenmähers. Der Rasenmäher errechnet die optimale Mähstrategie. Nun geht's los. Der Rasenmäher saust herum, vergleicht pausenlos die tatsächliche Position mit der Soll Position auf dem Rasenplan, korrigiert seinen Kurs ...

Wir brauchen eine aufwendige Sensorik und einen leistungsfähigen Rechner.


Ansatz 2:

Unser Rasenmäher bekommt nur einen Hindernisdetektor und einen kleinen Rechner. Rasenvermessung entfällt. Der Algorithmus, nach dem unser Rasenmäher arbeitet, ist etwa wie folgt:

1. Fahre vorwärts und mähe
2. Wenn Hindernis dann
3.      Maschine stoppen
4.      2 Sek rückwärts fahren
5.      Zufallszahl generieren
6.      Bewegungsrichtung mit Zufallszahl korrigieren
7. Gehe zu 1


Sicherlich braucht unser vom Zufall gesteuerter Mäher etwas länger, um den Rasen zu mähen. Aber irgendwann hat auch er alle Stellen gemäht. Er ist einfacher, fehlertoleranter etc.

Was haben Rasenmäher mit Ciliaten zu tun?

Ein Paramecium schwimmt gegen ein Hindernis. Danach schwimmt es rückwärts (etwa 3-4 Paramecium Längen), dreht sich etwas in eine andere Richtung und schwimmt wieder vorwärts. Komplexe Informationsverarbeitung? Mitnichten.

Cilien und Flagellen können ihren Schlag ändern, so dass sich die resultierende Bewegungsrichtung des Einzellers verändert. Der Kontakt mit dem Hindernis führt zur Ausschüttung von Calcium in das Cytoplasma um die Kinetosomen. Die erhöhte Calciumkonzentration in den Cilien bewirkt eine "Umpolung" des Schlages und als Ergebnis ein "Umdrehen" der Bewegungsrichtung des Parameciums - es schwimmt rückwärts. Da nun die Calciumkonzentration im Cytoplasma zu hoch ist, springen Ionenpumpen an, um das Calcium wieder in Calcium-Speicher zu befördern. In der Zeit, in der das Paramecium etwa 3 Körperlängen weit rückwärts geschwommen ist, haben die Ionenpumpen das Calciumnivau soweit reduziert, dass die Hälfte der Cilien wieder normal schlägt. Die Rückwärtsbewegung stoppt und das Paramecium taumelt. Sobald die Calciumkonzentration wieder normal ist, schlagen alle Cilien wieder metachron in eine Richtung und das Paramecium schwimmt vorwärts. Die neue Bewegungsrichtung ist zufällig (durch die vorherige Taumelbewegung), aber einen spitzen Winkel von der ursprünglichen Bewegungsrichtung entfernt.  

Ein erstaunlich einfacher, aber trotzdem (oder deshalb) wirkungsvoller Mechanismus. Die komplexe Reaktion findet ohne Informationsverarbeitung statt. Der mechanische Reiz, das Anstossen an ein Hindernis, bewirkt die Umpolung einer Membran, die dadurch Calcium in das Cytoplasma entlässt. Alles weitere läuft dann automatisch, wie oben beschrieben, ab.

Herzliche Grüsse
Eckhard
Zeiss Axioscope.A1 (HF, DF, DIK, Ph, Pol, Epifluoreszenz)
Nikon SE2000U (HF, DIK, Ph)
Olympus SZX 12 (HF, DF, Pol)
Zeiss Sigma (ETSE, InLens SE)

www.wunderkanone.de
www.penard.de
www.flickr.com/wunderkanone

ruhop

Hallo, Eckhard.

Wirklich eine schlüssige und einleuchtende Erklärung. Nur: Basiert Deine Erklärung auf einer (oder mehreren) Theorie(n) oder ist sie ein eindeutiges Forschungsergebnis?
Das würde micht jetzt brennend interessieren. (Ich weiß, der Konjunktiv sollte nicht sein).

Gruß aus dem Hintertaunus

Holger

Eckhard

Hallo Holger,

ZitatBasiert Deine Erklärung auf einer (oder mehreren) Theorie(n) oder ist sie ein eindeutiges Forschungsergebnis?

Machemer H., de Peyer J. E. (1977)
Swimming sensory cells: electrical parameters, receptor properties and motor control in ciliated protozoa. Verh. Dtsch. Zool. Ges. S. 86-100

Herzliche Grüsse
Eckhard
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Hallo, Eckard.

Prima, vielen Dank für die Quellenangabe.

Gruß aus dem Hintertaunus

Holger

arturoag75


Michael Plewka

hallo zusammen,

vielen Dank für das Interesse an den aufgeworfenen Fragen, insbes. natürlich an Eckhard, der einen interessanten Erklärungsansatz für ein Verhalten von Paramecium präsentiert hat. Leider kann ich aus akutem Zeitmangel nur kurz Stellung beziehen. In ähnlicher Weise beschreibt Machemer seine Ergebnisse in dem Buch von Hausmann & Bradbury: "Ciliates-Cells as Organisms" (1996).

Auffällig ist dabei die Gemeinsamkeit  zwischen dem Ionentransport bei Ciliatenzellen und Neuronen mehrzelliger Organismen (Nervenimpuls/ Aktionspotential), die jeweils eine Zustandsänderung der Zellen bewirken. Diese Zustandsänderung ist in beiden Fällen  die kleinste Informationseinheit, die zu weiteren Reaktionen des Gesamtorganismus führen kann.

Ist somit das "Verhalten" von Stichotricha erklärt?

Nein, denn

1.Stichotricha ist kein Paramecium
Das hört sich trivial an, es sind ja beides Ciliaten, gehören also zu einer gemeinsamen Protistengruppe. Dennoch liegen zwischen diesen beiden Ciliaten evolutionsbiologische Welten, soll heißen, Hunderte von Mio. Jahren unabhängiger Evolution.
Dies äußert sich u.a. darin, dass Paramecium Cilien besitzt, Stichotricha dagegen weitgehend Cirren. Während der metachrone Cilienschlag (und damit die Fortbewegung) bei Paramecium mit hydrodynamischer Kopplung  erklärt werden kann,  ist  die Koordination der Cirren bei der Bewegung der hypotrichen Ciliaten (ganz extrem deutlich bei der Laufbewegung von z.B. Euplotes  (s.o.)) weitgehend unverstanden (Machemer, pers.comm.)


2. Hin-und Herbewegung ist etwas anderes als das Verlassen des Gehäuses aufgrund von äußeren Reizen

3. Die Frage ist noch nicht geklärt, ob es ein "Heimfindevermögen"  bei Stichotricha gibt. Die von mir oben beschriebene Einzelbeobachtung ist ja in keinster Weise repräsentativ. Insofern nochmals die Ermunterung an die andern Tümplerinnen und Tümpler, dass weitere Beobachtung dieser Ciliaten sicher spannend ist......

beste Grüße Michael Plewka