Warum Tubusauszug bei historischen Mikroskopen?

Begonnen von Lupus, November 07, 2014, 23:45:43 NACHMITTAGS

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Lupus

Hallo,
eine Frage an die Kenner historischer Mikroskope:

Welchen Grund hat der skalierte Tubusauszug, den viele Mikroskope aus den Jahren um 1900 haben? Z.B. ein Leitz aus 1897 mit einem Auszugsbereich von 130-190 mm:



oder z.B. ein Seibert aus einer ähnlichen Zeit mit einem Auszug von 150-190 mm:





War der Grund vielleicht die mögliche Verwendung von Fremdobjektiven oder von älteren eigenen Modellen mit anderen Tubuslängen? Diese Bauweise gab es ja offensichtlich kurz vor der Zeit, zu der (teilweise) einheitliche Abgleichlängen eingeführt wurden?

Hubert

JB

Hallo Hubert,

Der Auszugstubus hat verschiedene Vorzuege. Zum einen kann man damit (in gewissem Rahmen) die Vergroesserung stufenlos einstellen (Zoom). So ist es z.B. moeglich Okular- und Objektmikrometer aufeinander abzustimmen (also ganze Zahlen statt Bruchzahlen fuer die Umrechnung zu bekommen.

Zum anderen kann man so (in begrenztem Rahmen) die Dickenabweichung von Deckglaesern ausgleichen. Zu dicke und zu duenne Deckglaeser verursachen sphaerische Aberration, die sich durch Tubusverkuerzung bzw. -verlaengerung ausgleichen lassen. (Siehe Mikrofibel S. 177)

Schliesslich erlaubt der Ausziehtubus auch noch, das Mikroskop kleiner zu verpacken, also ein ganz praktischer Grund.

Die Zoomfunktion und die Packgroesse sind wohl der Grund, warum es Ausziehtuben bei den Kleinmikroskopen von ROW auch viel spaeter noch gab. http://www.microscopy-uk.org.uk/mag/indexmag.html?http://www.microscopy-uk.org.uk/mag/artnov00/rowscope.html

Jon

Lupus

Hallo Jon,

die grundsätzliche Möglichkeit den Vergrößerungsmaßstab zu justieren oder die Deckglasdicke dadurch anzupassen ist mir durchaus bekannt. Die Frage ist nur ob das damals tatsächlich der Grund war. Wenn es zur Korrektur der Deckglasdicke diente, müsste es doch z.B. eine Anleitung dazu geben, und der Auszugspielraum ist für diesen Zweck auch zu groß. Ich kann mir diese Begründung nicht vorstellen (die Mikrofibel gab es damals, glaube ich, noch nicht - woher wollten die das dann wissen?  ;D ).
Und die Verpackungsgröße dürfe 1900 kein Argument gewesen sein, dann wäre auch die Skala nicht erforderlich.

Hubert

Klaus Henkel

Zitat von: Lupus in November 08, 2014, 08:34:40 VORMITTAG
Hallo Jon,

die grundsätzliche Möglichkeit den Vergrößerungsmaßstab zu justieren oder die Deckglasdicke dadurch anzupassen ist mir durchaus bekannt. Die Frage ist nur ob das damals tatsächlich der Grund war. Wenn es zur Korrektur der Deckglasdicke diente, müsste es doch z.B. eine Anleitung dazu geben, und der Auszugspielraum ist für diesen Zweck auch zu groß. Ich kann mir diese Begründung nicht vorstellen (die Mikrofibel gab es damals, glaube ich, noch nicht - woher wollten die das dann wissen?  ;D ).
Und die Verpackungsgröße dürfe 1900 kein Argument gewesen sein, dann wäre auch die Skala nicht erforderlich.
Hubert

Guten Morgen Hubert!

Das und noch vieles mehr, was nicht in den lakonischen Bedienungsanleitungen stand, lernte man damals in den Anatomie- und Biologieübungen und -kursen für Studenten an der Uni. Das Mikroskop war seinerzeit, strikter als heute, ein wissenschaftliches Instrument für Naturwissenschaftler und Mediziner.

Zu jedem Mikroskop gab es nicht nur die Bedienungsanleitung, sondern bei Leitz und Zeiss z. B. auch eine einführende Schrift mit vielen praktischen Hinweisen, ein richtiges, kleines Lehrbüchlein, wo man solche Sachen erklärt bekam.

Gruß
KH

Lupus

Hallo Herr Henkel,

danke für den Verweis auf frühere Anleitungen. Aber das erklärt nicht, wozu der skalierte Auszug konkret konstruiert war.

Hubert

Klaus Henkel

Zitat von: Lupus in November 08, 2014, 10:43:20 VORMITTAG
Hallo Herr Henkel,
danke für den Verweis auf frühere Anleitungen. Aber das erklärt nicht, wozu der skalierte Auszug konkret konstruiert war.
Hubert

Aber doch! Da er skaliert war, diente er dazu, die gewünschte Tubuslänge einzustellen. Es obliegt nun Ihrer Fantasie, sich die unterschiedlichen Gründe einfallen zu lassen, warum man das hätte tun sollen. Mit ein Grund ist sicherlich, daß damals beinahe jeder Hersteller andere Tubuslängenmaße hatte, d, h. seine Objektive brauchten die Einstellung auf die korrekte Tubuslänge, die hinzugekaufte Objektive hatten. Ferner waren Objektträgher und Deckgläser von mitunter stark streuender Dicke - usw usw usw
KH

Johannes Kropiunig

Hallo,

es wurde erwähnt, dass der Tubusauszug auch dazu genutzt werden kann um eine Deckglaskorrentur durchzuführen. Nun ist es doch so, dass man bei Trinos den Kameraausgang parfokal zu den Okularen einstellt, aber die Deckgläser der von den meisten Objektiven geforderten 0,17mm Dicke nicht entsprechen, sondern leicht davon abweichen. Verschenkt man durch die Parfokalität also eine Möglichkeit das Maximum aus Bilder zu holen, oder spielt diese geringe Abweichung von den 0.17mm keine Rolle ?

Viele Grüße,
Johannes
Biologische Mikroskop: Zeiss Standard 16
Stereomikroskop: Lomo MBS 10
Kameras:  EOS 1100D, EOS 1000D, EOS 1000Da, und EOS 350Da Peltier gekühlt

Sag es mir - und ich werde es vergessen. Zeige es mir - und ich werde mich daran erinnern. Beteilige mich - und ich werde es verstehen.
Laotse

treinisch

Hallo,

zwei Zitate aus: W Behrens, Leitfaden der Botanischen Mikroskopie, 1890,

S. 29:
Für die Benutzung verschiedener Oculare mit verschiedenen Objectivsystemen ist es sehr wünschenswerth, in vielen Fällen nothwendig, die Länge des Tubus {tt Figur 17 auf p. 19) verändern zu können.

S. 30:
Das neue Stativ IIa von Zeiss [...] Der Tubus ist ausziehbar, sein Auszug mit Millimetertheilung versehen, damit man die für verschiedene Systemarten nöthige Tubuslänge leicht herstellen kann.

vlg
Timm
Gerne per Du!

Meine Vorstellung.

JB

#8
Die Erklaerungen finden sich in zahlreichen alten Literaturstellen. Man kann sich dann aussuchen, was der einzig wahre Grund ist. Timm hat schon auf die unterschiedlichen Tubuslaengen der verschiedenen Hersteller hingewiesen, dafuer habe ich keine weiteren Stellen gesucht. Fuer die anderen liefere ich nach: Neu war fuer mich noch Literaturstelle 4; der Ausziehtubus diente auch der Anpassung der Tubuslaenge wenn ein Objektivrevolver statt eines Einzelobjektivs verwendet wurde.


The tube length for which our objectives are computed is 160 mm, reckoned from the upper end of the draw tube to the shoulder of the objective screw.The tube length may be accurately adjusted by means of the draw tube, which is graduated in millimeters.
[...] The influence of slight differences in the thickness of the cover-glass may be compensated for by increasing the tube length in case of too thin a cover-glass, and shortening it for one too thick. The amount of compensation thus obtainable varies with the E.F. and the N.A. of the objective. In a 4 mm objective of 0.85 N.A., for instance, an increase in tube length of 30 mm will balance a decrease in cover-glass thickness of 0.03 mm.

Bausch & Lomb Optical co., Katalog 1911


In making use of the higher power objectives—from No. 5 on—it should be remembered, that the lenses are corrected for cover glasses of 0,17 mm in thickness and for a microscope tube-length of 170 mm. When using the oil-immersion objectives it is particularly desirable, that this exact tube length should be employed. With a view to facilitate the adjustment of the tube-length the draw tubes of all our larger stands are graduated in millimeters, the scale indicating the exact length of the microscope tube in any given position of the draw tube. In this connection it should be remembered, that the width of the collar of the nose-pieces is 15 millimeters, and that consequently, when a nose-piece is attached to the tube the reading of the draw tube scale should be 155 mm instead of 170 when the adjustment is proper.

Leitz Katalog No 40, 1903


Once an eyepiece micrometer has been calibrated it need not be recalibrated when used with t he same eyepiece, t he same objective and the same tube length. If the tube length of the microscope with adjustable draw tube is changed, these values change proportionally and this may bring the values of the eyepiece scale to an even value. A slight movement of the draw tube causes little loss of definition, but any change in tube length from the correct value of 160 mm increases the spherical aberration (and reduces the definition). If small details need not be resolved a certain amount of distinctness in the image may be sacrificed for convenience in calibrating the eyepiece scale.

Richards (1941) The Effective Use AND PROPER CARE OF THE MICROSCOPE


In any measurement one should note the tube length, which is usually 160 mm. Since the use of the nosepiece is universal, it is convenient to have the length measure 160 mm. when the tube is pushed in. Some companies still make the tube so short that it must be pulled out about 15 mm. to reach the length of 160 mm., even when the nosepiece is in place. Where there is no revolving nosepiece, the draw-tube is simply pulled out until the length is 160 mm. Where a nosepiece is used, its height should be measured, and the draw-tube should be pushed in a distance equal to the length of the nosepiece.

Chamberlain (1933) Methods in Plant Histology


It must now be observed how many of the divisions of the stage micrometer correspond to one division of the eye-piece micrometer, and it is well to pull out the draw-tube till some simple relation is arrived at. Thus, supposing we have taken a stage inicrometer divided into 1-1oo and 1-1ooo, and we find that one of the larger divisions of the stage micrometer (equal to 1-1oo) corresponds to 9^ divisions of our ruled glass disc in the eyepiece, we should pull out the draw-tube till it corresponded exactly to ten divisions, and each division would now correspond to one of the smaller divisions of the stage micrometer, or 1-1ooo.

THE AMERICAN MONTHLY MICROSCOPICAL JOURNAL, Vol. 9, 1890


Lupus

Danke, das sind doch jetzt mal fundierte Begründungen aus der damaligen Zeit!

Hubert

treinisch

Hallo,

Zitat von: Safari in November 08, 2014, 19:12:59 NACHMITTAGS
Zitat
Nun ist es doch so, dass man bei Trinos den Kameraausgang parfokal zu den Okularen einstellt, aber die Deckgläser der von den meisten Objektiven geforderten 0,17mm Dicke nicht entsprechen, sondern leicht davon abweichen.
Ich glaube nicht das diese alten Mikroskope mit Trinos verwendet wurden.

so hat Johannes das nicht gemeint.

Ich denke, es geht ihm darum, dass man durch eine Veränderung der Tubuslänge, was ja am Photoport ohne weiteres möglich wäre, eben all die coolen Dinge tun könnte, die man früher dadurch auch getan hat. Deckglasdickenkorrektur zum Beispiel.

Wir verzichten aber auf diese Möglichkeit, weil wir gern Parfokalität haben möchten. Oder verzichten wir doch auf nichts? Nichts wesentliches? Ich glaube, das ist Johannes Frage, oder?

vlg
Timm
Gerne per Du!

Meine Vorstellung.

JB

#11
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Dünnschliffbohrer

Ein weiterer wichtiger Grund wurde noch nicht genannt: damals wurden viele Stative noch nicht serienmäßig mit einem Revolver geliefert. Den gab es als Zubehör. Man musste dann die Tubuslänge durch entsrechend weites Einschieben verkürzen können.  - Dsb.
"Und Gott sprach: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei; und er schuf um ihn Laubmoose und Lebermoose und Flechten und ein Mikroskop!"
[aus: Kleeberg, Bernhard (2005): Theophysis, Ernst Haeckels Philosophie des Naturganzen,  S. 90]

Gunther Chmela

Zitat von: Dünnschliffbohrer in November 09, 2014, 19:28:00 NACHMITTAGS
Ein weiterer wichtiger Grund wurde noch nicht genannt: damals wurden viele Stative noch nicht serienmäßig mit einem Revolver geliefert. Den gab es als Zubehör. Man musste dann die Tubuslänge durch entsrechend weites Einschieben verkürzen können.  - Dsb.

Das wurde aber oft anders gelöst. Der Tubus hatte am unteren Ende einen abschraubbaren Ring, der genau die Höhe des lieferbaren Revolvers besaß. So z.B. bei Busch, Rathenow, aber wohl auch bei anderen Herstellern. In den alten Ausgaben von "Mikroskopie für jedermann" (Stehli) wird ausdrücklich darauf hingewiesen, daß man diesen Ring nicht entfernen dürfe, solange man keinen dazugehörigen Revolver hat.

Grüße
Gunther

Dünnschliffbohrer

Hallo Günther und alle mitlesenden,

ich habe hier eine Leitz-Broschüre: "Leitz Mkroskope  - Beschreibung und Anwendung" aus dem Jahr 1925. Dort wird mehrfach im Text auf die über den Tubusauszug vorzunehmende Korrektur der Tubuslänge bei Verwendung von Objektiv-Wechseleinrichtungen wie Revolver oder Zangenwechsler hingewiesen. Und auch Winkel-Mikroskope haben diesen Ausgleichs-Ring wohl nicht immer, der kam vieleicht erst verhältnismäßig spät auf? Aber gesehen habe ich ihn bei manchen Mikroskopen auch, aber eher selten.

Grüße
Dünnschliffbohrer
"Und Gott sprach: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei; und er schuf um ihn Laubmoose und Lebermoose und Flechten und ein Mikroskop!"
[aus: Kleeberg, Bernhard (2005): Theophysis, Ernst Haeckels Philosophie des Naturganzen,  S. 90]