Bertrand-Linsen einst und jetzt – technischer Fortschritt oder Wildwuchs

Begonnen von olaf.med, Januar 09, 2015, 14:01:19 NACHMITTAGS

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olaf.med

Bertrand-Linsen einst und jetzt – technischer Fortschritt oder Wildwuchs der Ingenieurskunst?

Durch Zufall musste ich mich gestern mit der Bertrand-Linsen-Einheit des Leica DM RXP beschäftigen, und das hat einen so nachhaltigen Eindruck bei mir hinterlassen, dass ich hier ein paar Gedanken dazu loswerden muss.

Die Bertrand-Linse ist ja bekanntlich nichts weiter als eine einfache Linse, die zusammen mit dem Okular ein Hilfsmikroskop bildet, mit dem man die hintere Brennebene des Objektivs abbildet.

Anders ausgedrückt: die Bertrand-Linse entwirft ein Bild der hinteren Brennebene des Objektivs in der Ebene des reellen Zwischenbilds, das man mit dem Okular betrachtet.

Genau so waren die ursprünglichen Bertrand-Linsen konzipiert, wie man an diesem Fuess-Mikroskop aus dem Jahre 1885 erkennt:



Der rote Pfeil deutet auf die einschiebbare Bertrand-Linse, eine einfache, unvergütete Plankonvex-Linse mit ca 40-50 mm Brennweite in einer simplen Messingfassung, die gegen das Herausfallen mit einem federnden Blech mit der kleinen pilzförmigen Schraube gesichert ist. Bei diesem hochwertigen Forschungsmikroskop war zusätzlich der Innentubus mit Zahnrad und Zahnstange zur Fokussierung der Bertrand-Linse in Richtung der grünen Pfeile verschiebbar – das war's und das war gut!

Die nächste Entwicklungsstufe waren die zentrierbaren Bertrand-Linsen kombiniert mit einer Irisblende zum Ausblenden kleiner Körner, wie hier an einem Leitz-Forschungsmikroskop aus der Zeit um 1925. Das war besser!

Im Bild (quick and dirty) erkennt man den Hebel zur Verstellung der Irisblende und die zwei Rändelschrauben zur Zentrierung. Die eine verstellt lediglich den Anschlag des Einschubs (Ost-West Justierung), die andere verstellt die Linse um einen exzentrischen Drehpunkt (Nord-Süd-Justierung):



Schließlich wurde beim Orthoplan-Pol eine achromatische Bertrand-Linse verbaut, die hervorragende Ergebnisse lieferte. Die Achromasie war eigentlich für die Beobachtung der Interferenzfiguren gar nicht so sehr wichtig, aber die Bertrand-Linse konnte nun als ganz schwach vergrößerndes Übersichtsobjektiv genutzt werden, wenn man den Objektivrevolver herausnahm. Das war Spitze!

So sieht's bei DM RXP aus, und man glaubt es kaum, wenn man es nicht selbst sieht:



Dies ist der Blick von unten in die gesamte Einheit. Das Licht kommt aus Richtung des Betrachters, wird an einem beidseitig verspiegelten Spiegel 1 um 90° umgelenkt, das Prisma 2 lenkt den Strahl wiederum um 90° um, das gleiche macht das Dachkantprisma 3 unter Bildumkehr, 4 ist eine Irisblende, die durch ein Gummi-Treibrad 5 von außen betätigt wird (11),6 und 7 sind wiederum Spiegelelemente, 8 ist die eigentliche Bertrandlinse, die über den Hebel 9 eingeschaltet wird. Der gleiche Drehknopf verschiebt die Linse über einen Hebel zur Fokussierung; bei 1 trifft der Strahl dann auf die andere Seite des ersten Spiegels und wird in den Tubus gelenkt. Das Ganze funktioniert übrigens nur, wenn man den Hebel 10 zusätzlich herauszieht, was den Tubusfaktor von 1 auf 1,6 erhöht.

Ist das jetzt wirklich noch besser oder doch nur ein Wildwuchs???

Die Zahl der Glas-Luft-Flächen hat sich von der hervorragenden Bertrand-Linse des Orthoplan von 4 auf mindesten 13 erhöht; die Zahl der optischen Einzelkomponenten von 2 auf mindesten 7 und die optische Qualität ist ganz sicher nicht besser geworden. Über den Preis dieser Einheit möchte ich garnicht nachdenken.

Man möge mir verzeihen, aber diese Strahlenführung erinnert mich an gewisse Zeiss-Mikroskope aus der Nachkriegs-Ära: bei einem verschraubten NU bin ich nach vielen frustrierenden Tagen beim Versuch, den Strahl durchzufädeln, kläglich gescheitert und habe die ganze Kiste in Einzelteilen verkauft.
   
Nachdenkliche Grüße,

Olaf
Gerne per Du!

Vorstellung: http://www.mikroskopie-forum.de/index.php?topic=4757.0

... und hier der Link zu meinen Beschreibungen historischer mineralogischer Apparaturen:
https://www.mikroskopie-forum.de/index.php?topic=34049.0

Eckhard F. H.

ZitatDie Bertrand-Linse ist ja bekanntlich nichts weiter als eine einfache Linse, die zusammen mit dem Okular ein Hilfsmikroskop bildet, mit dem man die hintere Brennebene des Objektivs abbildet.
Lieber Olaf,
vielen Dank. Du hast einem alten Mann noch zu einem gedanklichen Durchbruch verholfen.  ;D
Gruß - EFH

reblaus

Lieber Olaf -

und ich dachte, nur Zeiss hätte sich beim Phomi fast zu Tode konstruiert - wir sagten immer "Behördenkonstruktion".

Viele Grüße

Rolf

peter-h

Über so einfache Strahlengänge lacht sich ein AXIOMAT schlapp  ;D



... und das ist nur die Bildweiche !
Schönes WE
Peter

l'œil armé

#4
Zitat von: peter-h in Januar 09, 2015, 17:36:53 NACHMITTAGS
Über so einfache Strahlengänge lacht sich ein AXIOMAT schlapp  ;D

... und das ist nur die Bildweiche !
Schönes WE
Peter


Lachen kann er nicht, aber wenn könnte, dann eher über die Unwissenden. Der AXIOMAT kann, aber er muss nicht den Strahl um die diversen Ecken führen. Das gilt für die Objektivbrücke genauso wie für die Bildweiche. In dieser fehlt auf der Zeichnung übrigens ein Ausgang. Nur im Kamerabaustein gäbe es Knicke, aber wer will die alte Kamera heute noch benutzen?

Schon klar, die Einfachheit eines monokularen Tubus bringt der AXIOMAT in keinem Falle mit. Aber den Axiomaten umgeben anscheinend immer noch diverse Müten, im Positiven wie im Negativen. Es empfiehlt sich, das Gerät mal ausgiebig auszuprobieren, dann stellt man fest, dass sich so manches Gerücht in Wohlgefallen auflöst,

Ich bin übrigens nach wie vor der Meinung, dass in heutiger Zeit Glas/Luftflächen nur dann einen wirklich merkbar negativen Einfluss auf die Bildgüte haben, wenn sie nicht sauber sind - und das sind sie gerade bei älteren Geräten meistens nicht. Ich habe darüber hinaus feststellen müssen, dass auch eine gerade eben erfolgte Service-Durchsicht von einem Werkstechniker durchgeführt, nicht unbedingt saubere Glasflächen zur Folge haben muss :(

Freundliche Grüße

Wolfgang

"Du" fänd' ich absolut in Ordnung

das schönste: Zeiss Lumipan
das liebste: Leitz Ortholux/Panphot
das beste: Zeiss Axiomat

Ich bin übrigens keineswegs mit meinem Umfang an Intelligenz zufrieden; ich bin lediglich froh, mit meiner Dummheit so weit gekommen zu sein.

TPL

Lieber Olaf,

danke für diese Gegenüberstellung. Ja, man kann es wirklich auch übertreiben. Der Doppelnutzen der Bertrand-Linse beim Orthoplan ist eine wirklich sinnvolle Erweiterung gewesen in einer Zeit, als Aufnahmen bei schwacher Vergrößerungen ohne so eine elegante Lösung ganz schön aufwändig sein konnten. Ich habe mit dieser "Einrichtung" einige gute Übersichtsbilder gemacht (in Film-Zeiten), für die ich ansonsten eine separates Gerät gebraucht hätte. Und Dein Verweis auf Kurt Michels skurrile Strahlengang-Akrobatik kam mir auch in den Sinn, als ich gesehen habe, was im DM-RXP aus der Bertrand-"Linse" geworden ist ::). Dennoch: wenn "hinten" noch Licht raus kommt, ist es doch sogar ganz interessant...

Zitat von: l'œil armé in Januar 09, 2015, 20:16:53 NACHMITTAGS(...) Es empfiehlt sich, das Gerät mal ausgiebig auszuprobieren, dann stellt man fest, dass sich so manches Gerücht in Wohlgefallen auflöst.

Hallo Wolfgang,

mach' ich gerne. Würdest Du mir Deinen AXIOMAT ab März vielleicht mal leihen (vorher muss ich umziehen; da wüsste nicht, wo ich die "Telefonzelle" verstauen soll), dann korrigiere ich gerne meine verhaltenen Vorurteile ;).

Ungefaltete Grüße
Thomas

HDD

Liebe Kollegen

Mit den Strahlengängen des Axiomat beschäftige ich mich seit 3 Wochen. Es ist ein faszinierendes Labyrinth von Spiegeln und Prismen, das erst richtig zur Hochform aufläuft, wenn man sich mit dem Foto-Unterbau beschäftigt.
Ich habe in unseren Schülerforschungszentrum einen Axiomat aufgebaut und endmontiert. Die Justage dauerte mehrere Stunden. Wenn alles passt ist es ein wunderbares Gerät. Als ich den Bericht von Olaf las, kam mir der Strahlemgang der Bertrand Linse irgendwie bekannt vor. :D
Als Peter und Wolfgang dann weiter unten die Bilder einstellten musste ich doch laut lachen. Sie hatten wohl den gleichen Gedanken. Danke für den Bericht, ich habe mich köstlich amüsiert. ;)

Herzliche Grüße  Horst-Dieter

l'œil armé

#7
Lieber Thomas,

verleihen möchte ich ihn nicht gerne, aber ich könnte Dir einen abgeben. ;D

Übrigens: am NU trägt Herr Michel nun aber doch keine Schuld - oder?

Lieber Horst-Dieter,

wenn man den Strahlengang an der Bertrand-Linse festmachen will, dann ist der Einwand der Verknotung der Lichtstrahlen natürlich nicht völlig unberechtigt. Aber immerhin gab es den Axiomaten auch als Polarisationsmikroskop mit UD-Tisch und entsprechender Optik....

Freundliche Grüße

Wolfgang
"Du" fänd' ich absolut in Ordnung

das schönste: Zeiss Lumipan
das liebste: Leitz Ortholux/Panphot
das beste: Zeiss Axiomat

Ich bin übrigens keineswegs mit meinem Umfang an Intelligenz zufrieden; ich bin lediglich froh, mit meiner Dummheit so weit gekommen zu sein.