Tuttons Schneid- und Schleifgoniometer -
die Kunst der Herstellung orientierter Kristallschliffe
Schneid- und Schleifgoniometer nach Tutton, Fa. Troughton & Simms, London, 1898; Höhe ca. 55 cm, Gewicht ca. 30 kg.
Kürzlich konnten wir unsere Sammlung um ein ganz außergewöhnliches Objekt bereichern, ein Schneid- und Schleifgoniometer nach Alfred Edwin Howard Tutton aus dem Jahr 1898. Es handelt sich zwar nicht um ein Mikroskop, aber mit seiner Hilfe wurden spezielle Präparate hergestellt, die auch zur mikroskopischen Untersuchung dienten. Daher möchten wir gerne das Instrument und seine Geschichte, sowie die Prinzipien der Herstellung orientierter Kristallschliffe hier einmal kurz beschreiben und hoffen, dass dies ein paar Interessenten findet.
Viel Spaß, Ulli und OlafDie Herstellung orientierter KristallschliffeDie optischen Eigenschaften von Kristallen sind ganz wichtige physikalische Parameter, die nicht nur der Diagnose dienen, sondern aus denen sich auch weitreichende Schlüsse auf deren chemisch Zusammensetzung und sogar die Bildungsbedingungen der Gesteine ableiten lassen. Dazu gab es
hier und
hier schon einige Informationen.
Die Messung der optischen Eigenschaften an Kristallen ist allerdings nicht trivial, da sie in den allermeisten Fällen richtungsabhängig sind und damit orientiert gemessen werden müssen. In kubischen Kristallen ist dies sehr einfach, da es nur einen (isotropen) Brechungsindex gibt; in tetragonalen, trigonalen und hexagonalen Kristallen müssen zwei senkrecht zueinander orientierte Brechungsindizes gemessen werden und bei rhombischen, monoklinen und triklinen gar deren drei, die jeweils senkrecht zueinander stehen. Zusätzlich kann man noch den Achsenwinkel 2V messen, der sich aber auch aus den Brechungsindizes berechnen lässt.
Die Messungen (außer an kubischen Kristallen) müssen daher an genau orientierten Kristallschnitten erfolgen. Die Herstellung solcher Schnitte ist eine hohe Kunst und verlangt weitreichende kristallographische und kristalloptische Fähigkeiten. Zur Orientierung benutzt man bei kleineren Kristallen das Polarisationsmikroskop und bei größeren, wohlausgebildeten Kristallen das Goniometer - ein mineralogisches Goniometer ist eine Winkel-Messeinrichtung zur genauen Bestimmung der Flächenwinkel und damit der Morphologie der Kristalle, die wiederum in Bezug zur optischen Orientierung steht.
Nach Entdeckung der Röntgenbeugung an Kristallen durch Max von Laue im Jahr 1912 wurde dieses neue Verfahren auch zur Orientierung der Kristalle benutzt und verdrängte die klassischen Methoden nach und nach fast völlig.
Ziel der Präparation orientierter Kristalle ist:
- die Herstellung planparalleler Platten senkrecht zu optischen Hauptrichtungen, an denen man z.B. die konoskopischen Erscheinungen (Achsenbilder) am Mikroskop genau vermessen kann
- die Herstellung von genau orientierten Prismen für die Bestimmung der Brechungsindizes nach der Methode der Minimalablenkung. Wenn Kristalle in ausreichender Größe vorhanden sind, ist diese Messmethode, die auf dem Snelliusschen Brechungsgesetz basiert, eine der genauesten. Ergebnisse mit einem Fehler von ± 0,0001 sind ohne weiteres erreichbar.
Typische orientierte Kristallpräparate für kristalloptische Untersuchungen. Die in Kork gefassten planparallelen Platten (Bildmitte) stammen aus der Zeit um 1900 und sind für mikroskopische Untersuchungen hergestellt worden, die Prismen aus Aragonit (rechts) wurden im Dezember 1919 gefertigt und dienten der genauen Brechungsindex-Bestimmung nach der Methode der Minimalablenkung. Im Labor-Handbuch ist deren genaue kristallographische und kristalloptische Orientierung skizziert. Fa. Dr. Steeg & Reuter, Bad Homburg v.d.H.Die verbreitetsten Einrichtungen für die Präparation der Kristalle waren die sogenannten Schleifdreifüße, von denen hier ein besonders schönes Exemplar aus der Werkstatt von Gustav Halle in Berlin zu sehen ist. Der Kristall ist auf eine Glasplatte gekittet, die am unteren Ende der in ihrer Neigung verstellbaren zylindrischen Hülse eingesetzt wird. Sie befindet sich in der Mitte eines gleichseitigen Dreiecks, das durch Schrauben mit feingängigen Gewinden gebildet wird. Geschliffen und poliert wird auf einer planen Scheibe aus Glas oder Gusseisen, wobei die drei gehärteten Schraubenspitzen die Schleifebene definieren. Zur Kontrolle der Orientierung kann der Kristall samt Glasplatte entnommen und an einem Goniometer vermessen werden. Eventuelle Fehljustierungen korrigiert man dann durch Verdrehen der Schrauben.
Schleifdreifuß nach Gustav Halle, ca. 1900Dieses Verfahren ist naturgemäß ziemlich aufwendig, da der Kristall samt gläserner Trägerplatte immer wieder zwischen Schleifdreifuß und Goniometer hin und her montiert werden muss. Daher hat man natürlich nach besseren Möglichkeiten gesucht und komplexe Kombinationsgeräte entwickelt, die Schneid- und Schleifgoniometer. Von diesen sehr seltenen und extrem aufwendigen Geräten ist die Tuttonsche Konstruktion die älteste und zweifellos interessanteste. Nach meiner Kenntnis existieren nur zwei erhaltene Exemplare, eines im Science Museum in London und das hier beschrieben Gerät. Weitere Schleif- und Schneidgoniometer konstruierte noch die Firma Stoe in Heidelberg im ersten Quartal des 20. Jahrhunderts, von denen eines im Museum des Mineralogischen Instituts in Straßburg und eines in den Flurvitrinen des Mineralogischen Instituts im Poppelsdorfer Schloss in Bonn ausgestellt ist. Streng genommen setzen diese jüngeren Konstruktionen von Stoe wieder die Nutzung eines externen Goniometers voraus, sind also keine Kombinationsgeräte wie die Tuttonsche Apparatur, aber die Umsetzung des Kristalls samt des Goniometerkopfs ist einfach, schnell und passgenau möglich, sodass hier keine Fehler entstehen.

Schneid- und Schleifgoniometer der Fa. Stoe, Heidelberg, ca. 1910. Mineralogisches Museum der Universität Straßburg. Tuttons Schneid- und SchleifgoniometerDas hier beschriebene Gerät tauchte in einem englischen Auktionshaus auf und wurde als einziges technisches Gerät inmitten einer Unzahl von Möbeln, Bildern, Schmuck und ganz viel Plunder am 1. Januar 2018 versteigert. Den Hinweis darauf verdanke ich einem lieben Freund, sonst wäre es mir trotz der durchaus richtigen Beschreibung sicher entgangen.
Bild aus dem Auktionskatalog der Versteigerung am 1. Januar 2018.
Im Karton links befinden sich die demontierten Fernrohre, das Sammelsurium im
Hintergrund vermittelt einen Eindruck von den anderen versteigerten Objekten.Als ich das Gerät kurze Zeit später geliefert bekam, war ich einfach überwältigt von der beeindruckenden Dimension und dem Gewicht, aber auch entsetzt über den Zustand. Bestimmungsgemäß wurden solche Geräte in den Präparationswerkstätten eingesetzt und kamen zwangsläufig dauernd mit Wasser, Schleifpulver und Schleiföl in Berührung und dürfen daher starke Gebrauchsspuren zeigen. Dieses Exemplar war aber so schrecklich eingesaut, dass man sich nach jeder Berührung sofort die Hände waschen musste. Der ehemals wunderbar goldorange Glanz der lackierten Messingflächen war nur noch an der Unterseite der Riemenscheiben und an geschützten Stellen, z.B. unter den Schraubenköpfen, erhalten. Alle anderen Flächen waren von einer dicken öligen Schmutzschicht bedeckt und durch die aggressiven Medien zum Teil stark korrodiert. Die beiden Fernrohre waren demontiert und völlig verbeult, das Okular des Beobachtungsfernrohrs und die gesamte Schleif- und Poliereinheit fehlten. Zunächst dachte ich, dass neben der Herstellung der fehlenden Teile eine Komplettrestaurierung erforderlich sei, bei der Vorreinigung zeigte sich aber, dass lediglich die lackierten Messingflächen unrettbar korrodiert waren, die dunkel-graugrün gebeizten Bauteile dagegen waren glücklicherweise unter all dem Dreck recht gut erhalten.
Ober- und Unterseite der Antriebs-Riemenscheibe der Schneideinrichtung vor der Restaurierung. Auf der Unterseite ist der Original-Lack
noch weitgehend erhalten, aber man erkennt auch zahlreiche Gebrauchsspuren, ja sogar Macken von Hammerschlägen(?) am Radius nahe der Achse. Der Nachbau eines Goniometer-Fernrohr-Okulars ist Routinearbeit, aber die getreue Anfertigung der Schleif- und Poliereinheit war eine echte Herausforderung. Diese ist bei dem um 4 Jahre älteren Goniometer des Science Museum in London noch anders konstruiert, konnte also nicht als Vorlage dienen. Glücklicherweise hat Tutton in seinem Lehrbuch
Crystallography and practical crystal measurement, London, 1911 (zweite Auflage 1922) das Gerät in epischer Breite beschrieben, und der zeitgenössische Stich dort ist so perfekt und maßstabs- und detailgetreu, dass alle nötigen Maße ermittelt werden konnten und somit die angefertigte Ergänzung sicher sehr genau dem Original entspricht.
Tuttons Schneid- und Schleifgoniometer vor und nach der Restaurierung. Die GoniometereinrichtungDas Gerüst des nahezu 30 kg schweren Geräts besteht aus einer gusseisernen Platte mit 35 cm Durchmesser, in die drei konische Säulen eingeschraubt sind, deren oberer Abschluss eine Platte etwa in Form eines gleichseitigen Dreiecks bildet. Durch das Zentrum dieser Platte läuft eine sauber gelagerte hohle Achse, die am oberen Ende den 180 mm durchmessenden Teilkreis trägt. Die Teilung in Inkremente von 1/3 Grad ist in eine ca. 1mm dicke Silberauflage gestochen, ein Nonius erlaubt eine Ablesegenauigkeit von einer Winkelminute. Durch eine anklemmbare Feineinstellung lassen sich kleinste Drehungen vornehmen. Auf der oberen Platte befindet sich eine Signatur
Troughton & Simms, London. Zusätzlich ist auf der Grundplatte noch ein massives Silberschild gleicher Gravur aber mit dem Zusatz 1898 angebracht.
In der hohlen Achse befinden sich zwei weitere konzentrische Röhren, an deren innerer der besonders groß dimensionierte und stabile Goniometerkopf hängt, mit dessen Hilfe der Kristall genau zentriert und justiert werden kann. Diese innere Achse ist am oberen Ende als Gewindestage ausgebildet, die große Rändelscheibe oben am Gerät ist die Mutter zu dieser Gewindestange, durch Drehung kann der Goniometerkopf daher in seiner Höhe genau justiert werden.
Die äußere der beiden Röhren gleitet perfekt in der hohlen Achse. Ausbalanciert wird sie durch zwei Hebel mit Bleigewichten an den Enden und einem Messingtopf für Bleigranulat, der bei Bedarf auf das obere zylindrische Ende der Achse gesteckt wird. Diese besondere Konstruktion ist von großer Bedeutung für sehr diffizile Schleif- und Polierarbeiten, da man mit ihrer Hilfe den Anpressdruck der geschnittenen Fläche auf die Schleif- und Polierscheiben extrem empfindlich dosieren kann.
Die beiden Goniometer-Fernrohre gleiten auf Kreisbahnsegmenten, deren Mittelpunkt genau mit der Drehachse zusammenfällt. Sie sind an jedem beliebigen Punkt der Kreisbahn klemmbar. Das Beleuchtungsfernrohr besteht aus einem einfachen Achromat in dessen Brennpunkt sich ein Signal (Webskyscher Spalt) befindet. Somit entsteht ein paralleles Strahlenbündel, das auf die Kristallfläche trifft und dort reflektiert wird. Das Beobachtungsfernrohr ist komplexer aufgebaut. Am vorderen Ende sitzt ein Achromat der gleichen Brennweite wie der des Beleuchtungsfernrohrs. Im Okular befindet sich ein Fadenkreuz zur genauen Einstellung des Signals. In dieser Kombination bilden beide symmetrische Unendlich-Fernrohre ganz analog z.B. zu denen in einem Spektralapparat.
Auf dem Beobachtungsfernrohr gleitet eine Hülse, die an einem Arm zwei Linsen trägt, die man wahlweise vor die Frontlinse oder vor das Okular klappen kann. Im ersten Fall entsteht ein schwach vergrößerndes Mikroskop mit dem Kristall im Fokus, wodurch man diesen bei direkter Betrachtung zentrieren und vorjustieren kann. Klappt man die Linse vor das Okular und schiebt es in die entsprechende Position, so kann man das Bild des Signals bis zur spiegelnden Fläche verfolgen, man kann also auch einzelne kleine Vizinalflächen gezielt vermessen.
Beobachtungsfernrohr mit klappbaren Zusatzlinsen. Die Längsverschiebung der Zusatzlinsen
zur Fokussierung ist mit roten Pfeilen angedeutet, die Klapprichtung mit grünen Pfeilen.Tutton preist sein Goniometer als außerordentlich genau an – stabil ist es ja sowieso – sodass mit ihm sehr präzise Messungen möglich sind. So gibt er an, dass man sogar die Verschiebung einer Kristallfläche beim Wachstum aus Lösungen messen kann, wenn man ein Glasgefäß mit der Mutterlösung auf das Gerät stellt und den Kristall eintaucht. Er schreibt weiter:
„In fact this instrument serves for a most useful variety of other purposes than that for which it was primarily designed, particularly for the determination of refractive indices by the total reflection method,... and is a most valuable acquisition to a crystallographic laboratory.”Die SchneideinrichtungEine der drei konischen Säulen trägt einen drehbaren Arm, auf den die Schneideinrichtung montiert ist. Sie besteht aus einem Schnurantrieb mit vier Riemenscheiben, über die ein Sägeblatt aus weichem Stahl angetrieben wird. Dieses wird im Betrieb von Zeit zu Zeit mit einer Suspension aus feinem Diamantpulver in Öl bestrichen. Die Diamantkörner bleiben im Stahl stecken und sorgen für eine gute Schneidleistung über einen längeren Zeitraum.
Der Antrieb erfolgt entweder von Hand über einen Knauf oder durch einen Motor, der auf eine zusätzliche Riemenscheibe wirkt, die am unteren Ende der Achse des Antriebsrads sitzt. Für einen sehr feinfühligen Vorschub sorgt eine weitere Einrichtung, die an einer benachbarten Säule befestigt ist. Das Ende des Arms mit der Schneideinrichtung wird dort in eine Stimmgabel-ähnliche Führung geschoben und durch einen federnd gelagerten Haken gesichert. Nun kann die gesamte Einrichtung mittels einer feingängigen Schraube verstellt werden. Die federnde Lagerung verhindert einen zu hohen Schneiddruck auf die Probe.
In der Praxis wird also der Kristall mittels des Goniometers so orientiert, dass die gewünschte Schnittfläche genau senkrecht zur Goniometerachse liegt und dann wird geschnitten. Die erreichbare Genauigkeit bei der Orientierung der Fläche liegt nach Tutton bei 3 Winkelminuten, was schon extrem gut ist. Für planparallele Platten wird dann einfach eine Scheibe durch einen zweiten parallelen Schnitt erzeugt. Die Herstellung von 60°-Prismen ist etwas aufwendiger, aber mit diesem Gerät auch in einer Aufspannung möglich. Dafür ist der Goniometerkopf für einen großen Verstellbereich von mehr als ± 60° konzipiert. So können die beiden Flächen des Prismas nacheinander ohne Umkitten erzeugt werden.
Die Schleif- und PoliereinrichtungAuf der Gusseisen-Grundplatte ist eine Schwalbenschwanzführung aufgeschraubt auf die bei Bedarf die Schleif- und Poliereinrichtung aufgeschoben wird. Mit einer durch eine Kurbel angetriebenen Spindel ist sie in Längsrichtung verschiebbar. Auch hier erfolgt der Antrieb der Schleif- und Polierscheiben über einen Schnurtrieb mit drei Riemenscheiben, entweder wieder über einen Knauf, oder aber durch den Elektromotor, wofür die Antriebsscheibe mit einer zweiten Keilnut versehen ist. Die verschiedenen Schleif- und Polierscheiben können mit einer sinnreichen Schnellwechselvorrichtung auf dem Schleifteller befestigt werden. Dafür sind die Schleifscheiben auf der Unterseite mit jeweils drei Zapfen mit eingestochener Nut versehen, die genau in Bohrungen des Tellers passen. Gesichert werden sie durch ein drehbares Blech mit Langlöchern, das in die Nuten greift.

Das restaurierte Schneid- und Schleifgoniometer und der zeitgenössische Stich aus Tutton (1911): Crystallography and practical crystal measurement.
Alfred Edwin Howard Tutton (1864-1938) war Chemiker und Mineraloge und an den technischen Hochschulen in Oxford, London und Cambridge tätig. Sein besonderes Interesse galt der Untersuchung isomorpher Mischkristallreihen (Verbindungen mit gleichem atomarem Aufbau bei wechselnden Kationen und Anionen). Zu diesem Zweck kombinierte er hochpräzise goniometerische und optische Messungen und konnte so nachweisen, dass sich die Eigenschaften der Mischkristalle in Abhängigkeit von der Zusammensetzung systematisch ändern. Für seine Messungen entwickelte er Präzisionsgoniometer und andere physikalische Apparaturen. Sein großes Werk
Crystallography and Practical Crystal Measurement erschien 1911 und in einer zweiten Auflage 1922 (2 Bände). Es ist noch immer eines der bedeutendsten Standardwerke für die klassischen Untersuchungsmethoden für Kristalle.
Seine Vita schließt:
Tutton’s reputation rests on the outstanding precision of his goniometric and optical work, … his data, although not fundamental, added substantially to the understanding of isomorphism; and his ingeniously designed apparatus formed the basis of later instruments useful in a wide range of fields. https://www.encyclopedia.com/science/dictionaries-thesauruses-pictures-and-press-releases/tutton-alfred-edwin-howard