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Lacrymaria olor

Begonnen von Martin Kreutz, Dezember 22, 2018, 17:54:39 NACHMITTAGS

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Martin Kreutz

Liebes Forum,

einige Ciliaten haben bei den Mikroskopikern einen gewissen Bekanntheitsgrad, weil sie zum einen recht häufig sind und zum anderen auch noch ein charakteristisches Erscheinungsbild haben. Zu diesen Ciliaten zählt mit Sicherheit Lacrymaria olor, den sicher jeder hier im Forum schon einmal gesehen hat. Das auffälligste Merkmal ist sicher der unaufhörlich zuckende und suchende Hals, der eine außergewöhnliche Dehnungsfähigkeit besitzt. Im Laufe der Jahre hat sich bei mir ein ganzer Satz an Fotos von dieser Art angesammelt und ich habe mich entschlossen, einige davon hier mal zu zeigen.

Hier eine Übersichtsaufnahme einer ganzen ,,Kolonie" von Lacrymaria olor, die ich schon vor 12 Jahren noch auf Diafilm aufgenommen habe:



Von Lacrymaria gibt es zahlreiche Arten, die mitunter schwer zu unterscheiden sind. Lacrymaria olor besitzt neben dem typischen, stark elongierbaren Hals 2 kontraktile Vakuolen und einen zweiteiligen Makonukleus mit einem dazwischen liegenden Mikronukleus. Gerade die beiden Makronukleusteile sind bei einem ungequetschten Exemplar manchmal nur schwer zu erkennen:


KV1, KV2 = Kontraktile Vakuolen
Ma1, Ma2 = Makronukleusteile
MZ = Mundzapfen

Oft sieht man nur eine schwache Einschnürung oder schmalen Trennstrich. Erst bei starkem Deckglasdruck trennen sich die beiden Teile:


Ma1, Ma2 = Makronukleusteile
Mi = Mikronukleus

Die Cilienreihen verlaufen deutlich spiralig um den Körper, wobei sie am Vorderende derartig stark spiralisiert sind, dass sie fast parallel liegen. Der konische Mundwulst ist von einem Wimpernkranz umgeben, der den Mundzapfen am Vorderende fast umschließt:


SWR = somatische Wimpernreihen
MW = Mundwulst
Ma1, Ma2 = Makronukleusteile

Um die außergewöhnliche Dehnungsfähigkeit des Halses zu dokumentieren braucht man etwas Glück. Ist die Schichtdicke zu hoch, streckt sich der Ciliaten in alle Richtungen und man erhält selten scharfe Fotos. Ist die Schichtdicke zu dünn, kontrahiert er und streckt sich nicht mehr. Mit letzterer Situation begann vor einigen Wochen eine Fotosession eines Exemplares von Lacrymaria olor in einem Mikroaquarium. Hier eine Aufnahme des Exemplares, schon leicht gequetscht, aber noch nicht kontrahiert:



Das wird wohl nichts mehr, dachte ich, aber nach einiger Zeit begann das Exemplar umherzutasten:



Zu meiner Freude entschied sich das Exemplar dann jedoch dafür, richtig loszulegen und auf Beutefang zu gehen. Die erstaunliche Dehnungsfähigkeit und Länge des ausgestreckten Exemplares überrascht und ich musste erst Mal 2 Stufen runterschalten auf das 10 X Objektiv, um es noch erfassen zu können:



Nach diesen Aufnahmen packte mich noch der Ehrgeiz es noch mit dem 20 X zu versuchen. Nur eine Aufnahme (von vielen) glückte, wobei Lacrymaria die Gesamtlänge des Sensors voll nutzte. Der ausgestreckte Hals (ohne Rumpf) ist hier 850 µm lang:



Ganz erstaunlich ist die Fähigkeit von Lacrymaria olor, den dehnbaren Hals gleich mehrfach abwinkeln zu können. Dies geschieht oft an Stellen, wo der Hals Kontakt mit Detritusteilchen oder anderen Festkörpern hat. Durch diese unglaubliche Technik, kann sich die Beute auch nicht ,,hinterm Baum verstecken". Die folgende Aufnahme zeigt, das Lacrymaria auch locker um die Ecke schauen kann:



Nach den Angaben von Penard kann Lacrymaria olor im ausgestreckten Zustand tatsächlich eine Länge von 1200 µm erreichen. Vor 18 Jahren konnte ich ein Foto aufnehmen, das solch einen Zustand zeigt. Auch wenn das Foto qualitativ nicht optimal ist, möchte ich es hier zeigen. Der Hals dieses Exemplares ist auf 990 µm Länge gestreckt. Zusammen mit dem ca. 200 µm langen Rumpf erreicht dieses Exemplar tatsächlich die von Penard beschriebene Länge:



Allen ein frohes Weihnachtsfest und viel Spass beim anschauen!

Martin

reblaus

Hallo Martin -

tolle Bilder!
Was mich an einem freischwimmenden Exemplar (1 mm Schichtdicke, zwischen Moos und Wasser herumsuchend) besonders fasziniert hat, war der propellerartig kreiselnde Rüssel, der dadurch eine Art Trichterform bildete. Das hatte ich allerdings erst richtig gesehen, als ich eine Videoaufnahme mal langsamer angeschaut habe.

Viele Grüße

Rolf

Michael Plewka

hallo Martin,

Deine Aufnahmen sind (mal wieder)  schwer beeindruckend und in dieser Form m.W. einmalig! Gratulation und Respekt!
Es gibt wohl nur wenige Ciliaten (Stentor gehört wohl auch noch dazu), die eine solche Verlängerung können.

Zitat....das Lacrymaria auch locker um die Ecke schauen kann...

natürlich ist das metaphorisch gemeint, allerdings steckt dahinter ja wieder die menschliche "Sicht"weise (im Wortsinne): wenn ein Elefant mit seinem Rüssel vergleichbare Bewegungen ausführt, so lassen sich diese auf Muskeln und Nerven zurückführen, was bei Lacrymaria beides nicht vorhanden ist. Wie also nimmt dieser Ciliat bestimmte Körperchen der Umgebung wahr und wie funktioniert die Kontraktion an dieser Stelle dann? Ist die besondere Kontraktions-/Expansionsfähigkeit auf besondere Strukturen zurückzuführen, die diese Gattung von anderen Ciliaten unterscheidet?
Kennst Du dazu Literatur?


Beste Grüße & FF (Frohes Fest)
Michael Plewka

Richard Scholz

#3
Hallo Martin,
ich kann mich den begeisterten Kommentaren nur anschließen!
Im ,,Foissner" Band 4 (S. 164) findet sich der Hinweis: ,,Vorsicht! Auch L. olor hat manchmal ein Gehäuse, da sie sich in leeren Gehäusen anderer Einzeller verstecken."
Ergänzt wird dieser Hinweis durch ein Foto, das L.  olor in einem leeren Rädertiergehäuse zeigt sowie einer Zeichnung von  Lacrymaria in einem leeren Cothurina-Gehäuse. Dieses Verhalten würde gut zu dem extrem langen Hals dieses Ciliaten ,,passen" (Prinzip: ,,Periskop". Sondierung oder Beutefang von einem sicheren Rückzugsort aus betreiben).
Eine "behauste" L. olor habe ich bisher nicht beobachten können. Deine Aufnahmen zeigen ebenfalls nur "freie" Exemplare. Hast Du zu L. olor im Gehäuse Beobachtungen machen können ?

Beste Grüße

Richard

RainerM

Hallo Martin,

auch ich bin beeindruckt und sprachlos angesichts dieser fantastischen Aufnahmen (und stelle meine eigenen daher nur mit Bedenken dazu)!

Diese sollen aber nur meine Frage illustrieren: Ist es dir einmal gelungen, Lacrymaria olor beim Beutefang zu beobachten bzw. zu fotografieren? Nach Helbig u. Hausmann im MK 99, S. 67, feuert L. olor bei Berührung einer potentiellen Beute aus dem Halsendstück Toxicysten ab, die die Beute lähmen. Anschließend öffne sich das Halsendstück und die Nahrung werde in einer Vakuole eingeschlossen, die rasch durch den langen Hals in den Körper transportiert wird.

Diesen Nahrungstransport konnte ich mehrfach beobachten (s. Aufnahmen 1 und 2), noch nie jedoch den Fressvorgang selbst. Wie hat man sich diesen vorzustellen? Öffnet sich das Köpfchen wie ein Maul? Die Ausschnittvergrößerung in Aufnahme 3 scheint nahezulegen, dass dieser Mundwulst aus mehreren "Lappen" besteht, die "aufgeklappt" werden können. Ist das zutreffend oder erfolgt die Nahrungsaufnahme anders?







Ich finde es faszinierend, dass der Mechanismus, der den Körperbewegungen von L. olor zugrundeliegt, noch immer unbekannt ist!

Herzliche Grüße
Rainer

Martin Kreutz

#5
Hallo Zusammen,

ganz herzlichen Dank für die sehr positiven Reaktionen auf meinen Beitrag und die konstruktiven Ergänzungen!

@Michael: Leider habe ich auch nichts zum Mechanismus der Kontraktion und Elongation bei Lacrymaria gefunden und auch nicht zum Abwinkeln des gestreckten Halses an Festörpern. Es ist wirklich unglaublich, was eine Zelle an Mechanik und Sensorik entwickeln kann!

@Richard: Ja, ich habe Lacrymaria schon öfters in leeren Schalen von Crustaceen gefunden. Leider ist es dann schwierig gute Aufnahmen zu machen, weil dann die Schichtdicke durch diese Schalen erhöht ist. Die besten fotografischen Ergebnisse hatte ich bei Exemplaren von Lacrymaria olor, die an schwimmenden Deckgläsern unterwegs waren, die sie nach gleinen Ciliaten und Flagellaten absuchen. Dort jagen sie zuzusagen zweidimensional und nicht, wie von Rolf beschrieben, dreidimensional mit kreisenden Bewegungen. Ansonsten wären die gezeigten Aufnahmen nicht möglich gewesen.

@Rainer: Den Beutefang von Lacrymaria konnte ich bisher nur 2- oder 3 Mal beobachten, aber nie fotografieren, schon gar nicht bei so hoher Vergrößerung wie Du. Es geht sehr schnell und ich kann mich an den genauen Ablauf nicht mehr erinnern, aber von anderen haptoriden Ciliaten, zu denen z.B. auch Spathidium gehört, weiß ich, dass sich erst im Moment der Berührung mit der Beute die eigentliche Mundöffnung zeigt. Auf Deiner ersten Aufnahme ist sie als, V-förmiger, apikaler Einschnitt noch sichtbar. Die Mundöffnung besteht aber nicht aus Lappen. Die Öffnung wird durch Mikrotubuli gestützt und geformt. Sie kann sich enorm dehnen. Der Transport der Beute Schlund abwärts wird sicher auch unter ATP-Verbrauch an Mikrotubuli entlang gewährleistet. Diese Art von Transport nutzen auch reusentragende Ciliaten wie Nassula. Wenn ein Algenfaden durch die Reuse in die Zelle geschoben wird, ist keine makroskopische Bewegung der Reuse sichtbar. Alles geschieht auf molekularer Ebene entlang der Reusenstäbe, die letztendlich auch aus Bündeln von Mikrotubuli bestehen. Daher ist es nahe liegend, das bei Lacrymaria ein ähnlicher Mechanismus am Werk ist.

Allen schöne Feiertage!

Martin

Ole Riemann

Hallo Martin,

herzlichen Dank für diesen wunderbaren Beitrag. Besonders beeindruckend finde ich, wie Du nicht nur die Mikroskop-technische Seite im Griff hast, ohne die solche Bilder gänzlich undenkbar wären. Du kennst offenbar auch das Verhalten Deiner Objekte und ihre Biologie sehr gut und bringst die nötige Geduld mit, Dich ihnen anzupassen und abwarten zu können. Dann kommen solche Bilder zustande, vor denen wir nur den Hut ziehen können.

Beste Grüße

Ole