marine Sandlückentiere (Meiofauna): Buchempfehlungen

Begonnen von B.Neuhaus, April 10, 2020, 10:57:45 VORMITTAG

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B.Neuhaus

Liebes Forum,

mehrere Bildbestimmungsbücher erschließen die mitteleuropäische, aquatische mikroskopische Lebenswelt recht gut, für den marinen Lebensraum mit seiner bodenlebenden Meiofauna fehlt ein Bestimmungswerk bislang vollständig. Gerade erst ist genau solch ein Bestimmungsbuch erschienen, daher schreibe ich ein wenig über marine Meiofauna und empfehle weitere Literatur mit ein paar Worten. Vielleicht hat der Eine oder die Andere schon seit längerem Interesse, sich mit dieser faszinierenden Lebenswelt zu beschäftigen, fand aber bislang keinen rechten Einstieg.
Es gibt nur wenige zusammenfassende Bücher über die marine, bodenlebende Sandlückenfauna (Meiofauna, Interstitialfauna), und diese übergreifenden Arbeiten sind bis heute fast alle auf Englisch und für Studierende und WissenschaftlerInnen geschrieben. Wer sich mit Organismen der Meiofauna beschäftigen möchte, wird diese Werke trotz der englischen Sprache mit Gewinn lesen.
[Anmerkung: Ich habe ein Besprechungsexemplar des Schmidt-Rhaesa (2020) für eine Besprechung in der Naturwissenschaftlichen Rundschau erhalten, nachdem ich diesen Text anhand eines Bibliotheksexemplars geschrieben hatte, und bin im Hofrichter (2003) und im Handbook of Zoology Autor je eines Kapitels über Kinorhyncha, beide ohne Tantiemen. Man kann mir nun noch ankreiden, dass ich viele Autoren persönlich kenne :-)]

Die Definition von Meiofauna ist etwas schwammig und eher praxisorientiert, es handelt sich um rein bodenlebende Tiere, die durch ein Sieb mit 1 mm Porenweite hindurchgehen und auf einem Sieb mit 30-63 µm Porenweite aufgefangen werden. Arten aus 32 Tierstämmen leben erwachsen dauerhaft in der Meiofauna, es gibt jedoch auch Juvenile und Larven aus makroskopischen Arten, die zeitweise in der Meiofauna auftreten. Ich empfinde diese Lebewesen als extrem spannend, sie bewegen sich sehr unterschiedlich, sehen oft ungewöhnlich aus und zeigen vielfältige Anpassungen an das Leben zwischen Sedimentpartikeln. Viele besitzen Haftorgane, mit denen sie sich blitzschnell an Sandkörnern (und in Pipetten :-( ) festheften und wieder von ihnen lösen können. Manche Aren wechseln innerhalb desselben Individuums mehrfach das Geschlecht oder sind zwittrig, andere übertragen ihr Sperma über Spermatophoren oder injizieren es dem Partnertier irgendwo in die Haut, da herrschen also teilweise recht robuste Sitten. Man findet die Tiere im Gezeitenbereich der Nord- und Ostsee leicht und kann sich ihrer in einer Petrischale unter einem Stereomikroskop erfreuen. Wer sich einzelne Tiere genauer anschauen möchte, wird schnell feststellen, dass ohne Phasenkontrast oder ohne differentiellen Interferenzkontrast wenig geht. Optimal ist es, die Tiere lebend zu beobachten. Man kann eine Sedimentprobe gekühlt für 3-4 Tage aufheben, danach überleben nur noch die robusteren Arten. Hat man einmal Feuer gefangen für eine Tiergruppe, benötigt man weitere detailliertere Bestimmungsschlüssel, sofern überhaupt vorhanden, und Originalbeschreibungen. Für die deutschen Meeresküste helfen dabei auch die Arten-Checklisten von Sebastian Gerlach (s. unten).

Das oben erwähnte Bestimmungsbuch über die Meiofauna möchte ich kurz vorstellen, weil es erstmals sehr viel leichter den Weg zu diesen spannenden Tiergruppen ebnet:

Schmidt-Rhaesa, A. (2020): Guide to the identification of marine meiofauna. Verlag Dr. Friedrich Pfeil, München, 607 Seiten. [ISBN 978-3-89937-244-1; 68,- €]

Das englischsprachige Buch wurde von 53 internationalen Experten verfasst und richtet sich laut eigener Angabe vorwiegend an Anfänger und WissenschaftlerInnen, meines Erachtens aber auch an interessierte Amateure (= Liebhaber), die den Aufwand nicht scheuen, sich intensiv mit mariner Meiofauna zu beschäftigen. Das Buch ist gebunden und sollte damit auch langjährige und intensive Nutzung überdauern, anders als ein broschiertes Buch. Es enthält 189 farbige und 135 schwarz/weiße Phototafeln, 6 Tabellen und 40 teilweise illustrierte Bestimmungsschlüssel. Der "Guide" ist gegliedert in ein einführendes Kapitel (8 Seiten), einen allgemeinen Bestimmungsschlüssel für die Gruppen der Meiofauna (7 Seiten), je ein Kapitel über jede der 32 Großgruppen (574 Seiten) und ein abschließendes Kapitel ,,My meiofauna story" mit sieben Anekdoten über Meiofauna-Erlebnisse einiger Wissenschaftler (7 Seiten). Es ist mit über 600 Seiten jetzt das Standardwerk, um die 32 Meiofauna-Gruppen als solche, oft die Familien und Gattungen und gelegentlich sogar Arten innerhalb der einzelnen Gruppen anzusprechen. Für fast jede Tiergruppe werden morphologische Merkmale beschrieben und in meist ausgezeichneten lichtmikroskopischen Bildern (Hellfeld, Dunkelfeld, Phasenkontrast, DIK, Fluoreszenz) und manchmal auch rasterelektronenmikroskopischen Bildern sowie Zeichnungen dokumentiert. Außerdem gibt es fast immer Angaben zur Ökologie, Morphologie, Geographie, Bestimmung, Verwandtschaftsbeziehungen, wo man die Tiere finden und wie man sie extrahieren kann, sowie ein Literaturverzeichnis.
   Die Einleitung ist recht kurz, für meinen Geschmack ein wenig zu kurz. Da sich das Buch ausdrücklich auch an Studierende richtet, hätte ich es für sinnvoll gehalten, das Herausholen der Meiofauna aus dem Sediment ausführlicher zu beschreiben und mit Zeichnungen oder Bildern zu dokumentieren. Diese Extraktionsverfahren findet man dann wiederholt ausführlich in verschiedenen Kapiteln über die einzelnen Gruppen beschrieben, leider ohne Illustrationen.
   Der Schlüssel für die Großgruppen erfüllt seinen Zweck gut, wenngleich Oligochaeten und einige Familien der Borstenwürmer allein anhand des Vorhandenseins oder Fehlens eines drüsigen Gürtels (Clitellum) unterschieden werden; dieses Merkmal ist jedoch nur bei geschlechtsreifen Stadien sichtbar. Die einzelnen Gruppen werden mit ein oder zwei Habitusbildern gezeigt. Hier hätte es für Menschen mit weniger Erfahrung bei Tiergruppen wir z. B. den Ciliophora, Fadenwürmern und Borstenwürmern durchaus ein paar Bilder mehr sein dürfen, die auch einen abweichenden Habitus zeigen.
   Der Umfang der Kapitel über die einzelnen Meiofauna-Gruppen variiert stark, dies hängt mit dem Schwierigkeitsgrad der Bestimmung und der Anzahl der Arten einer Gruppe zusammen. Die etwa 70 Arten der Rädertiere sind z. B. nicht über einen Schlüssel zugänglich sondern über eine grobe "Vorsortierung" anhand ausgewählter morphologischer Gattungsmerkmale, einer Tabelle mit Messwerten und -proportionen auf Artebene, der gemeinsamen bildlichen Darstellung morphologisch ähnlicher Arten und der textlichen Beschreibung von Gattungs- und Artmerkmalen. Ähnlich verfahren andere Autoren, falls sie keinen Schlüssel erstellen. In jedem Kapitel wird auf weiter führende Literatur verwiesen. Man sollte das Literaturverzeichnis neben Text und Illustrationen als eigenständige und unabhängige Informationsquelle benutzen, denn nicht alle im  Literaturverzeichnis zu einer Tiergruppe aufgelisteten Arbeiten sind bei allen Kapiteln auch im Text zitiert. Jede Meiofaunagruppe ist über Bilder, Zeichnungen oder eine Kombination von beidem illustriert. Ein wenig sparsam erscheint die Dokumentation der Ciliophora, Nesseltiere und Oligochaeta, da gibt es bereits im Higgins & Thiel (1988, s. unten) mehr Bildinformation.
   Was wird in dem einführenden Buch in die Bestimmung der Meiofauna nicht behandelt? Es fehlen die nur zeitweise in der Meiofauna lebenden juvenilen und larvalen Stadien makroskopischer Arten, auf dem Sediment lebende oder aus anderen Lebensräumen verdriftete Arten (z. B. bestimmte Rädertiere, Insekten), die einzelligen Sarcomastigophora, koloniale mobile Moostierchen und Arten ohne Anpassungen an den Lebensraum Sandlücke (z. B. bestimmte Schnecken und Muscheln). Dass diese Fauna fehlt, erschließt sich erst beim Lesen jedes Kapitels und wird dort auch jeweils begründet. Für weniger erfahrene Menschen stellen die nicht behandelten Formen jedoch ein Problem dar, denn sie können ihre Funde nicht immer richtig einordnen. Daher wäre es sinnvoll gewesen, den Habitus der fehlenden Formen in einem einführenden Kapitel oder im Schlüssel für die Großgruppen zu zeigen.
   Der ,,Guide" bietet nach eigener Aussage eine Einführung in die Bestimmung der Meiofauna. Diesen Zweck erfüllt er ausgezeichnet aufgrund der vielen Abbildungen, detaillierten Beschreibungen und der Verweise auf teilweise sehr umfassende weiterführende Schlüssel und zusätzliche Literatur, nur wenige Einschränkungen trüben das gute Bild etwas. Es bereitet mir viel Vergnügen, in dem Buch zu blättern und zu lesen. Man staunt immer wieder über die komplizierten inneren und äußeren Organe der einzelnen Gruppen. Ich halte den "Guide" für Amateure für den besten Einstieg in die Meiofauna und kann ihn wärmstens empfehlen.


Folgende alphabetisch nach Autor oder Herausgeber sortierte Literatur bietet ergänzende Informationen über die marine Meiofauna:

Gerlach, S.A. (2000): Checkliste der Fauna der Kieler Bucht und eine Bibliographie zur Biologie und Ökologie der Kieler Bucht. In: Bundesanstalt für Gewässerkunde (Hrsg.), Die Biodiversität in der deutschen Nord- und Ostsee, Band 1, Bericht BfG-1247, Koblenz, 376 Seiten.
Gerlach, S.A. (2004): Checkliste der Mikro- und Meiofauna im schleswig-holsteinischen und dänischen Wattenmeer. In: Bundesanstalt für Gewässerkunde (Hrsg.), Die Biodiversität in der deutschen Nord- und Ostsee, Band 2, Bericht BfG-1397, Koblenz, 166 Seiten.
Wer an den deutschen Meeresküsten Meiofauna beobachten möchte, kann die Originalbeschreibungen der Arten in den beiden Broschüren von Sebastian Gerlach nachschlagen; die Broschüren enthalten also reine Literaturlisten und keine Artbeschreibungen. Der Aufwand, die einzelnen Artikel zu beschaffen, ist recht hoch, man muss eher in Universitätsbibliotheken suchen. Immerhin sind etliche Originalbeschreibungen auf Deutsch erschienen. Zumindest vor einigen Jahren waren die Broschüren kostenlos bestellbar über: posteingang@bafg.de, Bundesanstalt für Gewässerkunde, Kaiserin-Augusta-Anlagen 15-17, 56002 Koblenz.

Giere, O. (2009): Meiobenthology. The microscopic fauna in aquatic sediments. Springer-Verlag, Berlin, 527 Seiten. ISBN 3-540-56696-1. [1. Auflage 1993: antiquarisch]
Dieses umfassendes Buch gibt Auskunft über fast alle Aspekte der Meiofauna, es ist sehr lesenswert und richtet sich vorwiegend an Studierende und WissenschaftlerInnen. Es finden sich Kapitel über Lebensräume, das Sammeln von Sedimentproben und ihre Aufarbeitung, Anpassungen der Tiere an das Leben zwischen Sedimentpartikeln, Systematik, Ökologie und über Arten aus ausgewählten Lebensräumen. Diese Buch ist ebenfalls sehr hilfreich, um zu lernen wie man Organismen aus verschiedenen Sedimenten extrahiert.

Handbook of Zoology, Walter de Gruyter Verlag, Berlin.
Das Handbuch besteht aus einer Reihe von Bänden, die auch Beiträge über Tiergruppen aus der Meiofauna enthalten. So ziemlich alle Aspekte einzelner Tiergruppen der Meiofauna werden dargestellt, unter anderem zur Systematik, Morphologie und Ökologie. Der Fokus liegt auf Studierenden und WissenschaftlerInnen.

Higgins, R. P. & Thiel, H. (1988): Introduction to the study of meiofauna. Smithsonian Institution Press, Washington, D.C., London, 488 Seiten. ISBN 0-87474-488-1. [nur antiquarisch]
Hier finden sich Informationen zur Geschichte der Meiofaunaforschung, Ökologie, Systematik, Sammeln, Extrahieren aus dem Sediment und zu Experimenten. Ein Methodenteil erläutert, wie die Tiere gesammelt und präpariert werden; insbesondere dieser Teil ist nach wie vor sehr informativ. Die einzelnen Tiergruppen werden jeweils allgemein recht kurz abgehandelt und in Zeichnungen vorgestellt, dabei manche Tiergruppen ausführlicher (z. B. Gastrotricha), andere weniger ausführlich (z. B. Nematoda). Das Buch wendet sich an Studierende und WissenschaftlerInnen.

Hofrichter, R. (Hrsg.; 2001): Das Mittelmeer. Fauna, Flora, Ökologie. Bd. I. Allgemeiner Teil. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, 607 Seiten. ISBN 3-8274-1050-9. [ca. 65,- €]
Hofrichter, R. (Hrsg.; 2003): Das Mittelmeer. Fauna, Flora, Ökologie. Bd. II/1. Bestimmungsführer Prokaryota, Protista, Fungi, Algae, Plantae, Animalia (bis Nemertea). Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, 859 Seiten. ISBN 3-8274-1090-8. [ca. 70,- €]
Die Fauna und Flora des Mittelmeeres richtet sich neben dem Riedl (1983) als einziges Buchprojekt an interessierte Amateure und bereitet die Informationen didaktisch sehr gut und modern auf. Der Text wird immer wieder von sehr informativen Zeichnungen und Bildern unterbrochen, es gibt zu zahlreichen interessanten Nebenaspekten kastenförmige Exkurse über bis zu eine Druckseite. Von der auf 3 Bände angelegten Fauna und Flora des Mittelmeeres sind leider nur die ersten beiden Bände realisiert worden. Der erste Band führt in die Geologie, Geographie, Klima, Vegetation, Ozeanographie, Ökologie, Biodiversität und Umweltsituation des Mittelmeeres ein. Der zweite Band enthält auch Tiergruppen der Meiofauna, die Information zu jeder Gruppe ist fast immer gegliedert nach den Überschriften Charakteristik, Umfang und Verbreitung, Lebensweise, Untersuchung und Bestimmung und Systematik.

Riedl, R. (Auflage von 1983, Nachdruck 2011): Fauna und Flora des Mittelmeers. Seifert Verlag, 836 Seiten. [ISBN 978-3-902406-60-6, 60,- €; antiquarisch: Paul Parey Verlag, Berlin]
Das Buch richtet sich ebenfalls an interessierte Amateure. Es ist allerdings schon sehr in die Jahre gekommen und kann mit den didaktisch hervorragend gestalteten Bänden des Hofrichter nicht mithalten. Der größte Vorteil ist wohl darin zu sehen, das die damals bekannte Flora und Fauna zur Gänze dargestellt wird, beim Hofrichter fehlt noch ein Band.


Ich hoffe, zumindest einige Forumsmitglieder angeregt zu haben, sich mit den Sandlückentierchen beschäftigen zu wollen. Viel Erfolg und Vergnügen dabei!

Viele Grüße,
Birger

Rene


B.Neuhaus

Dear Rene,

thanks for your suggestion. Unfortunately, the book by Hayward & Ryland covers only the macrobenthic fauna but not the meiobenthic species (see https://www.oxfordscholarship.com/view/10.1093/acprof:oso/9780199549443.001.0001/acprof-9780199549443).

Best wishes,
Birger