Eiablage und Brutpflege beim Bauchhärling Lepidochaetus zelinkai

Begonnen von Michael, Juli 27, 2020, 16:23:49 NACHMITTAGS

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Michael

#15
Hallo zusammen,

vielen Dank für die lebhafte Diskussion - Euer Interesse an meinem Beitrag freut mich. Bei meinem Post musste ich mich - zwangsläufig - auf eine etwas oberflächliche Beschreibung beschränken und konnte beispielsweise das Filmmaterial nur auszugsweise und im Zeitraffer zeigen. Ich versuche mal Eure Fragen / Anmerkungen Stück für Stück abzuarbeiten und ggf. mit genaueren Beobachtungen zu ergänzen.

@Michael Plewka:
Es tut mir leid, dass mein Bericht nicht dem Anspruch der gymnasialen Oberstufe genügt hat!  ;D
Scherz beiseite: Es war mir natürlich klar, dass ein Bericht über eine doch recht ungewöhnliche Beobachtung auf Widerspruch stoßen würde und ich alle meine Behauptungen würde belegen müssen. Dein Hauptkritpunkt scheint mir in der Einordnung des Verhaltens als "Brutpflege" zu liegen. Dazu muss ich das ganze ein wenig aufdröseln:

1. Das beobachtete Verhalten ist artspezifisch und wird von allen Individuen bei der Eiablage gezeigt
Es handelt sich also nicht um eine zufällige Bewegung/Verhalten, das ab und an von alle Gastrotrichen - je nach Umständen - gezeigt werden kann. Es handelt sich vielmehr um ein genetisch festgelegtes Verhaltensmuster, das nur bei den beiden gezeigten Arten bekannt ist und deshalb einen evolutionären Vorteil bedeuten muss (sonst hätte es sich nicht allgemein etabliert).

2. Das Verhalten wird nur von dem Muttertier direkt nach der Eiablage gezeigt
Andere Exemplare der selben Art (obwohl diese - wahrscheinlich - genetische Klone der Mutter sind), die sich ebenfalls im Präparat befanden, zeigten keinerlei Interesse an frisch abgelegten Eiern. Das Verhalten wird nur in der ersten Zeit vom Muttertier nach der Eiablage gezeigt und nach einer gewissen Zeit eingestellt.

3. Der eingesetzte Energieaufwand der Mutter dient dem Ei
Was auch immer der Zweck der Anstrengungen der Mutter sein mag, ich denke es ist unstrittig, dass die Mutter keinen direkten Nutzen aus der eingesetzten Energie zieht. Da das Verhalten einen evolutionären Vorteil hat (Punkt 1) bleibt als Nutznießer nur das Ei übrig.

Die Mutter setzt also Energie ein, die nicht ihr als Individuum zugute kommt sondern dem Nachkommen (Ei).
Das ist  die Definition einer Brutpflege! Dabei kommt es nicht darauf an, ob wir den Zweck des Verhaltens einsehen oder die Art des Transportes erkennen. Nun ist meine wissenschaftliche Ausbildung fachfremd und ich mag bei der Wahl der Fachbegriffe unsicher sein - ich halte die Bezeichnung für treffend.


Zitat von: Michael Plewka in August 01, 2020, 12:34:40 NACHMITTAGS
  Wir haben in Deinen Beiträgen nun zwei Videos, die das Verhalten eines Gastrotrichen zeigen. Stellt man nun die Frage nach dem "Warum" für dieses Verhalten, so liefern Deine weiteren Ausführungen eine "Erklärung"/ Hypothese: es handele sich um Tarnung und sei somit eine Brutpflege.

Du begründest das u.a. mit der aktiven Aufnahme von Detritus durch die Mutter und der aktiven Deponierung des Materials an dem Ei. Weder im Video des 1. noch im 2. Video kann ich dieses Verhalten erkennen. Ich halte es aber für außerordentlich wichtig, dieses Verhalten mal im Video zu dokumentieren, zumal es für mich bisher nicht  vorstellbar war, dass sich der Nahrungsfluss bei solch kleinen Wirbellosen umkehren kann. Auch das wäre für mich eine Sensation!
Ich begründe den Begriff "Brutpflege" also weder durch den Art des Detritustransports noch durch den möglichen Zweck des Verhaltens als "Tarnung" - da geht bei Deiner Argumentation etwas durcheinander. Brutpflege besteht, weil die Mutter Energie für das Ei einsetzt - egal wie und warum. Letztendlich ist jedes Verhalten eine mehr oder weniger komplexe Kette von Reiz-Reaktions-Mechanismen. Ob es sich hier um Brutpflege handelt ist völlig unabhängig davon, ob die Mutter aktiv Detritus aufnimmt oder nur "zufällig" mit sich trägt. Das Verhalten hat sich herausgebildet, weil es für das "egoistische Gen" einen Nutzen bietet.

Eine genauere Beobachtung des Vorgangs zeigt, dass der Detritustransport - wie beschrieben - im Pharynx erfolgt und von dort auf das Ei gespuckt wird und hier verteilt wird. Das mag im obigen Video nicht so genau beobachtbar sein, deshalb ein "Echtzeit-" Video dieses Vorgangs - nicht bei L. zelinkai  sondern bei der anderen Art Ch. cordiformis, bei der ich das Verhalten früher beschrieben habe:
https://www.youtube.com/watch?v=sqUSNj4V0DY
Hier erkennt man, dass die Mutter die Detritus-Partikel im Pharynx (nicht im Darm) heranbringt und dann auf die klebrige Eihülle aufträgt. Bei der Umkreisung des Eies wird immer wieder Detritus von der Eihülle in der Mundröhre aufgenommen und direkt etwas weiter auf der Eischale wieder abgelegt. Ich denke, dieses Video belegt meine obigen Aussagen ausreichend.

Über den Zweck des Verhaltens kann natürlich nur spekuliert werden. Ich halte die "Tarnungshypothese" für durchaus überzeugen. Wie alle Hypothesen kann sie natürlich nicht "bewiesen" werden - ein Widerlegen wäre nur durch die von Dir angeregten Versuche möglich, die aber in der Praxis in meine Augen unmöglich wären. Soweit ich weiß, bin ich wohl der erste, der die Eiablage von L. zelinkai und das entsprechende Verhalten beobachtet hat und ich halte es für unmöglich, genügend frisch abgelegte Eier für entsprechende Versuche zu gewinnen. Von daher bleibt uns nur die theoretische Diskussion, in der wir das Für und Wider dieser Hypothese gegeneinander abwiegen können.

Zitat von: ania in August 02, 2020, 07:48:16 VORMITTAG
Wenn die Mutter das Ei aufgrund chemischer Reize wiederfindet, wäre es plausibel dass sie es so lang tarnt, bis sie es selber nicht mehr riecht. Wenn sie es nicht mehr erkennt und von dannen zieht, wird es der Fressfeind auch nicht erkennen.

Anias Argumentation finde ich in diesem Zusammenhang sehr treffend. Ob die Mutter einem chemischen Reiz folgt, kann ich nicht sagen, aber ich halte diesen Mechanismus für sehr plausibel.
Ob man das beschriebene Verhalten als "sehr komplex" bezeichnen möchte oder nicht, liegt im eigenen Ermessen. Dabei handelt es sich natürlich nicht um eine wissenschaftlich belastbare Behauptung.

@Jon:
Es handelt sich bei allen Beobachtungen immer nur um das Muttertier, das zum Ei zurück kehrt. Wenn die Detritrushülle dicht genug ist, wird das Verhalten eingestellt. Andere im Präparat vorhandenen Gastrotrichen (der selben oder auch anderer Art) beteiligen sich nicht an der Dekoration der Hülle. Die Beobachtung der Brutpflege habe ich bei zwei Arten und insgesamt bei drei Individuen gemacht. Dekorierte Eier der entsprechenden Arten (ohne direkte Beobachtung der Dekoration) habe ich zu Dutzenden gesehen.
In der Literatur ist das Verhalten nicht beschrieben. Bisher ist lediglich bekannt, dass einige Arten sich den Platz zur Eiablage sorgfältig aussuchen. Die einzigen Beschreibungen der Beobachtung einer Eiablage, die ich kenne gehen auf Zelinka (ca. 1890) und Brunson (ca. 1940) zurück. Seit dieser Zeit haben die Kulturen von Lepidodermella squamata Einzug in die Labore gefunden und eine direkte "Feldbeobachtung" unattraktiv gemacht. Verhaltensbeobachtungen bei Gastrotrichen gibt es praktisch nicht (ich erinnere mich nur an eine Bewegungsstudie).
Eine Veröffentlichung meiner Beobachtungen wäre sicherlich sinnvoll (auch wenn ich zugeben muss, dass ich lieber am Mikroskop sitze als "dröge" Texte zu produzieren). Könnten Sie mir eine wissenschaftlich Zeitschrift empfehlen, die auch einem Amateur offen steht?

@Martin:
Im oben angegebenen Link zeige ich den Detritustransport genauer - aber das genaue Verfahren legt letzendlich nur das "Komplexitätsneveau" des Verhaltens fest. Auch wenn der Detritus nur zufällig mitgeführt würde, hätte das Verhalten einen evolutionären Sinn und wäre in meinen Augen Brutpflege.

Viele Grüße

Michael
Gerne per Du

JB

Zitat von: Michael in August 02, 2020, 10:52:42 VORMITTAG
Eine Veröffentlichung meiner Beobachtungen wäre sicherlich sinnvoll (auch wenn ich zugeben muss, dass ich lieber am Mikroskop sitze als "dröge" Texte zu produzieren). Könnten Sie mir eine wissenschaftlich Zeitschrift empfehlen, die auch einem Amateur offen steht?

Hallo Michael,

Spontan weiss ich keine passende Zeitschrift, wenn ernsthaft Interesse besteht finde ich aber welche! Die Zeitschriften stehen gemeinhin jedem offen, auch Amateuren, und z.B. in der Entomologie sind ein grosser Teil der Beitraege nicht von Profis geschrieben. Bei Zeitschriften mit hoeherem Profil ist das natuerlich sehr selten.

Hindernis sind gemeinhin die Kosten (Seitengebuehren oder Open access fees). Es gibt aber serioese kleine Zeitschriften von Fachgesellschaften, die noch immer fuer den Autor kostenlos publizieren.

Im Uebrigen braucht man erst einmal keine Zeitschrift zu finden. Eine Alternative sind die Pre-print server wie Bioarchive https://www.biorxiv.org/about/FAQ . Dort koennen Sie den fertig bearbeiteten Artikel und die Videos archivieren. Damit sind sie zitierbar. Wenn Sie in Zukunft noch einige der oben vorgeschlaegenen Experimente machen, koennen sie den dort archivierten Artikel entsprechend ergaenzen. Bei der Zeitschrift kann das auch noch nach Jahren eingereicht werden; die bis dahin angesammelten Zitate koennen mitgenommen werden.

Beste Gruesse,

Jon

Michael

Hallo Jon,

viele Dank für Ihre Antwort. Seit meiner letzten Veröffentlichung (oje - ist das wirklich schon 30 Jahre her?), hat sich da wohl einiges geändert. Damals gab's noch keine Preprint-Server, die nach einer sehr guten Idee klingen.

Schöne Grüße,

Michael

Gerne per Du

Martin Kreutz

Hallo Michael,

ich kann nur sagen, dass Du hier nicht nur eine einwandfreie Dokumentation zeigst, sondern Deine Interpretation Deiner Beobachtungen auch gut begründest und sehr gut gegen kritische Fragen (die sein müssen) verteidigst! Ich kann mich Deiner Interpretation Brutpflege anschließen. In dem Video von Chaetonotus cordiformis erkennt man sehr gut, dass die Detritusteilchen im Schlund transportiert und auf das Ei geklebt werden. Das finde ich sehr überzeugend!

Martin

limno

Hallo Michael,
ich schließe mich Martins  Ausführungen an: Man sieht das im Video (ab 0: 26) sehr deutlich. Das Muttertier schwimmt zielgerichtet( der ethologische Fachausdruck dafür ist gerichtete Appetenz) auf das von ihr abgelegte Ei zu-  gibt die im Pharynx liegende Detritusflocke von sich, schwimmt zurück zum Detritus verschluckt davon eine Flocke und schwimmt -ohne Umwege- zum Ei zurück  und dies viele Male, und so meine Vermutung- bis die Geruchsbarriere genügend dicht ist, so dass dass Muttertier die "Eigerüche" nicht mehr wahrnimmt. Zu diesem Zweck muss das Ei nicht vollständig mit Detritusflocken bedeckt sein, wie man sieht, (aber leider nicht riechen kann ;) ).Dass andere genetisch identische Individuen (weil von der selben Stammmutter???) ohne sonderliche Reaktion darin vorbeischwimmen, (was man leider nicht sieht und Du eingangs auch nicht erwähnt hast, falsifiziert Michael Plewkas Gegenhypothese, diese Bewegungen seien mehr oder weniger Zufall, denn anderenfalls hätten ja die anderen Gastrotrichen ähnliche Reaktionen zeigen sollen.
Nochmal meine besten Glückwünsche zu den Brutvideos, die soviel weitere interessante Fragen aufwerfen und zu weiteren Untersuchungen anspornen 8)
Heinrich
So blickt man klar, wie selten nur,
Ins innre Walten der Natur.

Michael Plewka

Hallo zusammen,

@ Michael: Vielen Dank für die weiteren Informationen, insbesondere für das Video, das  überzeugend die "Schluckbewegung" des Gastrotrichen zeigt und  dass Detrituspartikel abgelegt werden.

Aus Deinem  einleitenden Satz

Zitat"vor ca. einem Jahr konnte ich auf dem letztjährigen Dörnberg-Treffen beobachten, wie ein Bauchhärling sein frisch gelegtes Ei mit Detritus-Flocken tarnte. Damals war der Nachweis dieser bei Gastrotrichen völlig unbekannten Art von Brutpflege ...."

habe ich tatsächlich geschlossen, dass für Dich  die "Tarnung" eine Form der Brutpflege sei. Ich habe den Begriff "Begründung"  verwendet, weil sich Deine weiteren Ausführungen zum Verhalten des Gastrotrichen nach der Eiablage in beiden Beiträgen weitgehend auf die "Tarnung" beziehen.

Nun erfahren wir, dass Du

Zitat"die "Brutpflege" also weder durch den Art des Detritustransports noch durch den möglichen Zweck des Verhaltens als "Tarnung"...."

begründest, sondern stattdessen führst Du nun  zum ersten Mal (nach 2 Beiträgen zum Thema  Brutpflege) eine Definition dessen ein, was Du (jetzt) überhaupt darunter verstehst, (was schon mal ein Fortschritt ist.):

Zitat"Die Mutter setzt also Energie ein, die nicht ihr als Individuum zugute kommt sondern dem Nachkommen (Ei)."

In Deiner Definition geht es nun also um  den Begriff "Energie"  (der in den Deinen Beiträgen vorher nicht ein einziges Mal aufgetaucht ist). Entscheidend ist aber der etwas schwammige Begriff: "zugute". Wenn dieses "Zugute-Kommen" nicht gegeben ist, liegt folglich auch keine Brutpflege vor.

Du argumentierst nun nach Punkt 1 nach dem Motte: das Verhalten  ist "genetisch festgelegt"; das hat sich also etabliert, muss also einen evolutionären Vorteil bedeuten. Zynisch könnte ich jetzt formulieren: erklär das mal Menschen, die ein genetisch festgelegtes Merkmal wie Mukoviscidose oder Bluterkrankheit haben...

Wie ich schon vorher ausgeführt habe, werden in der Schule einige dieser Fallbeispiele  aus dem Bereich der Ethologie behandelt (worüber man natürlich auch Witze machen kann), die ziemlich eindeutig im Widerspruch zu Deiner Theorie des evolutionären Vorteils stehen.
Ich kann an dieser Stelle nur dringend empfehlen, Deine Argumentation zu überdenken.

Beste Grüße
Michael Plewka


Michael

Hallo zusammen,

@Martin:
Es freut mich, dass ich Dich überzeugen konnte. Konstruktive kritische Fragen auf Augenhöhe sind immer sehr hilfreich und ermöglichen erst, die eigene Argumentationskette zu überdenken und Lücken in ihr zu schließen.

@Heinrich:
Es freut mich, dass Dich dieses Verhalten bei den beiden Gastrotrichen-Arten ebenfalls fasziniert!
Eine belastbare Interpretation des Bewegungsverhaltens lässt sich aber sicherlich erst nach einer exakten quantitativen Analyse erstellen, die bei den beobachteten Einzelfällen wohl schwer möglich ist.  Ich würde deswegen auch die Einzelbeobachtung von unbeeindruckt vorbei schwimmenden Artgenossen nicht zu hoch bewerten wollen. Da müsste man wirkliche Entfernung, Geschwindigkeit etc. statistisch untersuchen. Deshalb möchte ich das etwas vorsichtiger formulieren: Es konnte keine Reaktion von Artgenossen in der Nähe des frisch abgelegten Eis beobachtet werden.

@Michael:
Es tut mir leid, dass ich mich in den beiden Beiträgen missverständlich ausgedrückt habe. Ich hoffe in meiner obigen Erwiderung meine Interpretation der Beobachtungen dargelegt zu haben.
Unabhängig von der strittigen Interpretation bleibt die Beobachtung des für diese Arten allgemein etablierte Verhaltens bestehen. Es wäre interessant, zu erfahren, wie Du dieses Verhalten interpretierst, soweit es aus den gezeigten Videos ersichtlich ist.

Viele Grüße

Michael
Gerne per Du

Michael Plewka

Hallo Michael,

um dieses wirklich sehr gut durch durch die  Videos dokumentierte merkwürdige und seltsame Verhalten der Viecher interpretieren zu können, muss ich es erst mal verstehen. Dazu fehlen m.E.  noch eine Menge Informationen.

Beste Grüße
Michael Plewka