Die paradoxen Assulina-Schuppen

Begonnen von Cuxlaender, März 14, 2021, 14:51:26 NACHMITTAGS

Vorheriges Thema - Nächstes Thema

Cuxlaender

Hallo,

Testaceen stehen stehen ja nicht ganz oben auf der Beuteliste des gemeinen Foristen. Sie sind, wenn man sie gefunden und identifiziert hat, mit einfachen Mitteln gut zu fotografieren und zu stacken, vielleicht zu einfach.
Das gilt besonders für die unscheinbaren kleinen allgegenwärtigen Assulina. Die drei heimischen Arten leben im feuchten Torfmoos, je nasser, desto größer die Art.
A. muscorum ca 45 µm,  A. seminulum ca 85 µm, die seltene  A. scandinavica 80 - 120 µm -(mein einziges Exemplar maß rekordverdächtige 135 µm).




Es handelt sich um genetisch unterschiedliche Arten ("the  three species were clearly distinct from each other" - Enrique Lara et. al. 2010).
Das Paradoxon besteht darin, dass im Durchlicht die Assulina-Schuppen von aboral zur Mundöffnung hin die jeweils darunter liegenden Schuppen dachziegelartig zu überlappen scheinen:



Aufnahmen mit Rasterelektronenmikroskopen belegen dagegen die umgekehrte Reihenfolge: Schuppen überlappen wie Dachziegel von der Mundöffnung gesehen die nächstfolgenden Schuppen:



(Foto Todorov-Bankov https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5974006/ Fig 3B, negativ)

Dieser Widerspruch ist bereits vor über 100 Jahren aufgefallen:
Eugène Penard 1902:  Im Allgemeinen ist es dennoch wahr, dass die Schuppenbildung dem Auge so erscheint, als ob die Schuppen auf der Rückseite die auf der Vorderseite deutlich bedeckten. Nach sorgfältiger Prüfung vieler Schalen kam ich zu dem Schluss, dass dieses Auftreten einer abnormalen Verzahnung auf die zementhaltige Substanz zurückzuführen ist, die bei dieser Art immer sehr häufig auf jeder Schuppe an der Innenwand der Schale abgelagert ist, stärker auf das dem Mund zugewandte Ende als auf den Rest ihres Umrisses und bilden dadurch sichtbare Reliefs , die nicht denen anderer schuppenartiger Rhizopoden entsprechen. Gleichzeitig scheint die Art der Überdeckung hier eigenartiger Natur zu sein, wobei jede Skala auf einer ihrer Hälften völlig frei ist und drei andere durch ihre andere Hälfte bedeckt.
J. Cash/G. H. Wailes 1915: Die Ablagerungen dieses Zements sind ungewöhnlich dick und verbergen normalerweise die wahre Form der ovalen Schuppen, was ihnen das falsche Aussehen einer ziegelartigen Anordnung ähnlich der eines Hausdaches verleiht, wobei sich die Schuppen vom Fundus nach unten zu überlappen scheinen. In Wirklichkeit sind sie umgekehrt angeordnet.
--------------------------------------------------
Bei der größeren A. scandinavica dagegen sind die Schuppen völlig transparent, im Durchlicht ist daher nicht deutlich, welche Schuppenreihen überlappen:



[Cash/Wailes 1915: The scales are always distinguishable and never hidden by brown chitineous cement.]

Gruß,
Hans

Michael

Hallo Hans,

vielen Dank für den interessanten Bericht und die schönen Fotos!
Wenn ich es richtig verstehe, ist die Ursache für die paradoxen Schuppenbilder, dass man mit REM nur die Oberfläche der Schuppen sieht, während im Durchlicht die Schuppendicke kontrastgebend ist und dadurch das "negative" Schuppenbild "vorgegaukelt" wird. Einen ähnlichen Effekt kenne ich von den Bauchhärlingen, bei denen oft der vordere Schuppenrand dicker ist als der hintere und so der Eindruck entsteht, dass der Vorderrand der hinteren Schuppen den Hinterrand der vorderen Schuppen überdeckt, obwohl es in Wirklichkeit gerade anders herum ist.
Man muss halt immer aufpassen - das Auge (bzw. unser Gehirn) lässt sich leicht täuschen!


Viele Grüße

Michael
Gerne per Du

Michael Plewka

Hallo Hans,

vielen Dank für diesen Beitrag, der ja letztlich auch das Thema der "Amöben als Baumeister" beinhaltet.

Das Stichwort "Dachziegel" ist ja schon gefallen; dabei ist es ja so, dass sinnigerweise der Dachdecker diese Dachziegel beim Hausbau nacheinander von unten nach oben platziert.

Als Amöben-Laie frage ich mich: wie machen das diese  Schalenamöben? Nacheinander? Gleichzeitig? Gibt es da Literatur, wo man sehen kann,  wie bei / nach der Zellteilung das Gehäuse aufgebaut wird?


Fragende Grüße
Michael Plewka

Cuxlaender

#3
Hallo,

@ Michael: Interessant, dass es solche Vortäuschungen falscher Tatsachen auch anderswo gibt.

@ Michael Plewka:

Der Gehäusebau der Testaceen ist unterschiedlich.
Die filosen Euglyphina, zu denen die Assulina zählen, stellen bekanntlich die Schuppen für die nächste Generation selbst her:
Der Vorgang nach Ogden & Hedley
(https://link.springer.com/article/10.1007/BF002266149:
"Die siliciumhaltigen Platten, aus denen die Schalen aufgebaut sind, werden in den Golgi- und perinuklearen Regionen des Elternteils hergestellt. Bei der binären Spaltung verlaufen diese entlang von Mikrotubuli-Pfaden und werden durch Mikrotubuli-Systeme (20–25 nm) und Mikrofilament-Systeme (7–9 nm) in der Tochterzelle in Position gebracht. Letztere in Form von Adhäsionsplaques sind maßgeblich an der Koordination und Entfaltung der Schalenplatten beteiligt."

Bei Großpietsch [http://istar.wdfiles.com/local--files/id-keys/Grospietsch1958Monograph.pdf, Seite 19]:




In Martin Kreutz' Simmelried gibt's auf Seite 109 eine schöne REM-Aufnahme.

Verkompliziert wird der Vorgang dadurch, dass der erste Schuppenkranz um die Mundöffnung herum aus anders geformten Schuppen besteht (für mich haizahnähnlich), und dass auch die Stacheln, sofern artspezifisch, vorproduziert wurden und planmäßig auf dem Gehäuse verteilt werden müssen.
-----
Nicht ganz so geordnet ist der Vorgang bei den lobosen Testaceen, welche Fremdmaterial (Quarz, Diatomeenschalen, erbeutete Euglypha-Schuppen  u. a.) für die kommende Generation sammeln. Die Armierung der neuen Gehäuse geht dabei nicht ganz so ordentlich, aber dennoch bewundernswert sinnvoll, vonstatten. Ludwig Rhumbler hat versucht, den Vorgang rein physikalisch zu erklären. Hier ist besonders erstaunlich, wie systematisch die Organismen das Baumaterial für die nächste Generation wählen und sammeln.

Gruß,
Hans

Michael Plewka

Hallo Hans,

vielen Dank für die Angaben zur Literatur (die ich bereits kenne).
Ich hätte erwartet, dass es vielleicht TEM-Aufnahmen o.ä. gibt, aus denen hervorgeht, wie die Richtung dieser dachziegelartigen Anordnung der Schuppen ursächlich erklärt werden kann. Offensichtlich muss sich ja genau diese Anordnungsrichtung bei der Zellteilung bzw. des Tochtergehäuses umkehren. Woher "weiß" das Plasma, an welcher Stelle es gerade baut? Bisher war meine Suche diesbezüglich erfolglos; deshalb meine Anfrage.


Beste Grüße
Michael Plewka

Cuxlaender

Moin Michael Plewka,

Leider habe ich keinen Zugriff auf Ogden & Hedleys "Adhesion plaques associated with the production of a daughter cell in Euglypha" von 1974 bei Springer, aus dem ich das Summary in meiner letzten Mail zitierte hatte. Möglicherweise gibt's dort Antworten
Dort auch diese Illustration:



Text dazu "Diagram to illustrate the production of a daughter cell and to show the microtubule and microfilament systems. A core of microtubules passes centrally into the daughter-cell and a band of microfilaments form a collar around the apertural region. Finger-like processes terminating in adhesion plaques are seen at the leading margin of the elongating cytoplasm. Further concentrations of microfilaments are shown at the leading edge of the siliceous shell-plates in the apertural region"

Hier über die Materials und Methoden dieses Dokuments.



Das geht natürlich weit über die Möglichkeiten des Amateur-Mikroskopikers hinaus.

Hilft das weiter?
Gruß, Hans

Michael Plewka

hallo Hans,

super!!!! 
Zwar ist meine Neugierde  immer noch nicht zu 100% befriedigt, aber Deine weiterführenden Infos  geben auf jeden Fall schon mal einen sehr guten Einblick und einen Hinweis zu der  Richtung, in der ich mal weiter suchen kann.

Besten Dank & beste Grüße

Michael Plewka