Radiolarien: Woher kannte Ernst Häckel vor über 100 Jahren deren Details?

Begonnen von bernd552, März 30, 2022, 14:11:37 NACHMITTAGS

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Peter V.

Hallo,

"Vervollständigen" ist ja akzeptabel, wenn die Vervollständigung der Realität entspricht. meine Frage war eher, ob es alle Radiolarien tatsächlich "so" - wie von Häckel dargestellt - auch gibt oder ob die Formen oft eher im wahrsten Wortsinne "Kunstformen" sind! Oder anders gefargt: Könnte man alle benamsen?*

Herzliche Grüße
Peter

*Aufgrund einer irritierten PN-Nachfrage: "Benamsen" = "mit einem Namen versehen, benennen, ansprechen". Ok, ein nur mäßig witzig verballhornter Begriff, der aber meines Wissens durchaus im allgemeinen mikroskopischen Sprachgebaruch gängig ist.


Dieses Post wurde CO2-neutral erstellt und ist vegan. Für 100 Posts lasse ich ein Gänseblümchen in Ecuador pflanzen.

bernd552

Liebe Anne, lieber Alfons,

das schätze ich an diesem Forum so sehr, hier bekommt man erstklassige Hintergrundinfos und hilfreiche Weichenstellungen für seinen weiteren Weg, wenn man laienhaft Neuland betritt. Danke dafür!

Wenn die Proben so viele Bruckstücke enthalten, dann kann man wohl davon ausgehen, dass es sich um geologische Tiefseeschlamm-Bohrungen mit fossilen Radiolarien handelt?
Ich vermute, dass die oberflächlichen Ablagerungen der Tiefsee u.a. aus (frisch) abgestobenen Silikatgerüsten der Radiolarien bedeckt sein müßten, die perfekt und ohne jegliche, mechanische Turbulenzen (empfindliche R. noch zusammen hängend oder ohne Bruch) von aller Organik befreit sein müßten.

Die natürliche Zersetzung mariner Polysacharide soll laut Literatur sehr komplex ablaufen und in unterschiedlichen Kaskaden von speziellen Enzymen und Bakterien erfolgen. Das wäre wohl das perfekte Material für alle Mikroskopiker.

Aber an solches Material herankommen wird wohl nicht möglich sein, so dass nur noch Lebendfang in Frage kommt ....... oder?

LG
Bernd

anne

Lieber Bernd,
auch solches Material habe ich.
Das habe ich mal von Ditmar Metzeltin bekommen, der mir völlig begeistert erzählt hat, das die Radiolarien sozusagen "Säcke weise" auf dem Meeresgrund lagen und einfach ab geschippt werden konnten.
Du wärst sehr enttäuscht. Es handelts sich bei meiner Probe um die "üblichen" Podocyrtis, es sind keine filigranen Fortsätze erhalten.
Das ist natürlich nur die Aussage zu einer Probe, es kann an anderer Stelle sicherlich auch anders aussehen.

lg
anne

Alfons Renz

Lieber Peter,

Häckel war ein sowohl künstlerisch begabter wie phantasievoller Naturforscher mit dem Ansatz, die Vielfalt der Formen und Arten im Lichte der damals neuen Darwinschen Theorie zu beschreiben.

Als der in Deutschland bedeutendste und kämpferischte Verfechter der natürlichen Evolution stand er im Kreuzfeuer der Kritik, durfte sich also keine Fehler erlauben. Die Verwechslung bzw. doppelte Verwendung eines Holzschnitts von Embryonen der Säugetieren hatte ihn massiven Anfeindungen ausgesetzt.

Deshalb ist davon auszugehen, dass er bei der Beschreibung des ungeheuer reichen Materials der Challenger-Expedition sehr sorgfältig vorging. Er hat dazuhin noch weitere Tiergruppen beschrieben, Quallen und Kalkschwämme.

Insgesamt waren es über 3.000 neue Arten, die Häckel beschrieb und in ein von ihm geschaffenes System der 'Natürlichen Entwicklungsgeschichte' einordnete.
Das muss man erst mal schaffen, sich so viele lateinische und griechische Artnamen auszudenken, die ja auch eine Eigenschaft des Objekts beschreiben sollten.

Am Ende hat er z.B. eine besonders schöne Qualle nach seiner jung verstorbenen Ehefrau Anna Sethe benannt.

Speziell bei der Auflage der Kunstformen stand die Darstellung eines Idealtypus der jeweiligen Art im Mittelpunkt. Die Natur ist da oft weniger künstlerisch. Wovon wir uns morgens im Spiegel im Vergleich zu Michelangelos David oder Botticellis Venus leicht überzeugen können.

Selbst in den modernen Bestimmungsbüchern wird großer Wert auf ein gefälliges Bild gelegt - obwohl in der Natur fast jeder Schmetterling beschädigte Flügel hat oder jedes Tier von Parasiten, Krankheiten oder Alter geplagt ist.

Mit sonntäglichen Grüßen,

Alfons




plaenerdd

Hallo Bernd,
Zitat von: bernd 552Wenn die Proben so viele Bruckstücke enthalten, dann kann man wohl davon ausgehen, dass es sich um geologische Tiefseeschlamm-Bohrungen mit fossilen Radiolarien handelt?
Ich glaube kaum, dass man von der  Challenger aus gebohrt hat. Vielmehr hat man zur damaligen Zeit wohl mit Gewichten beschwerte Probennehmer an ein Seil quasi im freien Fall auf den Grund fallen lassen, die sich dort einige Zentimeter bis wenige Dezimeter in den Boden gerammt haben und die dann dann wieder hoch gezogen wurden. Aber das ist auch nur eine Vermutung. Gebort haben die aber ganz sicher nicht, jedenfalls nicht in der Tiefsee, wo die Radiolarien ab einer bestimmten Tiefe angereichert werden, weil alle Kalkschlen (Foroaminiferen, Coccolithen u.a.) ab einer bestimmten Tiefe, die abhängig ist von den Temperaturverhältnissen, aufgelöst werden.
Beste Grüße
Gerd
Fossilien, Gesteine und Tümpeln mit
Durchlicht: Olympus VANOX mit DIC, Ph, DF und BF; etliche Zeiss-Jena-Geräte,
Auflicht: CZJ "VERTIVAL", Stemi: MBS-10, CZJ SMXX;
Inverses: Willovert mit Ph

bernd552

Hallo Gerd,

ja, ich glaube auch, dass vor 100 Jahren die Tiefsee-Bohrtechnik noch nicht so weit war.

Das Bild der Radiolarien, das Alfons von einem originalen Häckeckschen Objektträger zeigt, sieht vom Bruchbild der Radiolarien fast genau so aus, wie z.B. die Radiolarien aus dem Barbados Mergel der Fa. Kranz, die hier im Forum schon oft gezeigt wurden.
Ich hätte bei frisch abgestorbenen und sich langsam auf dem Meeresboden absetzenden Radiolarien viel weniger Bruch erwartet.

Anne berichtete ja, sie hätte solch eine Probe von der Meeresboden-Oberfläche und die Radiolarien (selbst die Robusten) würde ebenso viel Bruch zeigen.
Sehr wahrscheinlich gibt es für die Hobbymikroskopierer zu wenig Zugriff auf solche Bodenproben, so dass man keine verläßlichen Aussagen über die Qualität der dort aufliegenden, filigranen Radiolarien getroffen werden können.

LG
Bernd



Alfons Renz

Lieber Bernd,

Ich schaue gerne im Challenger-Report nach, wo und wie die gezeigte Probe(n) genommen wurden.

Der Zuwachs des Tiefseebodens beträgt nur wenige Millimeter pro Jahr (wenn überhaupt). Deshalb umspannt eine auch nur oberflächliche Entnahme, wie Gerd sie beschreibt, schon einen großen Zeitraum.

Herzliche Grüße,

Alfons

plaenerdd

Hallo,
in den Radiolarienwerken von Häckel habe ich aber auch Zellkörper und deren Inhalt gesehen. Er kann nicht nur subfossile Sedimentproben zur Verfügung gehabt haben, sondern sicher auch rezente Planktonfänge. An so was müsste man heran kommen. Die filigraneren Radiolarien leben in den Tropischen Meeren, während die in den polaren eher robust gebaut sind.
Beste Grüße
Gerd
Fossilien, Gesteine und Tümpeln mit
Durchlicht: Olympus VANOX mit DIC, Ph, DF und BF; etliche Zeiss-Jena-Geräte,
Auflicht: CZJ "VERTIVAL", Stemi: MBS-10, CZJ SMXX;
Inverses: Willovert mit Ph

Alfons Renz

Hallo Gerd,

Wie oben schon geschrieben, hat Ernst Häckel zuerst die lebend frischen Radiolarien aus dem Tiefenstrom der Meerenge von Messina untersucht und später dann das gesamte Radiolarien-Material der Challenger-Expedition. Vermutlich waren da auch Planktonproben dabei.

Am Mittelmeer war Häckel u.a. in der Meeresbiologischen Station von Villefrache, die für das dortige Tiefenplankton bekannt ist.

In der dortigen Institusbibliothek habe ich vor Jahren geschmökert und eine Arbeit von Häckel gefunden, in der er eine neue Art von Quallen beschrieb. Gesehen hatte er diese Quallen aus seinem Arrest-Zimmer im Turm von Belem vor Lissabon, in dem er wegen eines Cholera-Ausbruchs in London, von wo er kam, in Quarantäne sass und sich von seinen Wärtern die Quallen mit einem Eimer aus dem Wasser schöpfen lies.

Damals war die Merresbiologie ein reich gedeckter Tisch: Fast jede Beobachtung war eine Neuentdeckung!

Mit besten Grüßen,

Alfons