Kolonie der granuloreticulosen Schalenamöbe Microgromia am schwimmenden Deckglas

Begonnen von Ole Riemann, Mai 02, 2022, 16:46:28 NACHMITTAGS

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Ole Riemann

Liebe Freunde des Tümpelns,

um über die freien Ostertage Material fürs Mikroskopieren zu haben, war ich am Karfreitag am Main in der Nähe von Würzburg bei Randersacker unterwegs. Auf einem kleinen Tümpel in der Mainaue trieben hellbraune, von Blasen durchsetzte Flocken. Es handelte sich hierbei um die im Frühling häufigen ,,Auftriebe", die vor allem aus Cyanobakterien, Kieselalgen und fädigen Grünalgen bestehen. Durch die starke Photosynthesetätigkeit im Frühjahr wird in diesen komplexen Aggregaten verschiedenster Organismen reichlich Sauerstoff produziert, der dafür sorgt, dass sich ganze Organismenmatten wie ein Floß vom Gewässergrund heben und von der Oberfläche leicht abzusammeln sind. Für den Mikroskopiker kann solch eine Probe Auftrieb mehr als wochenendfüllend sind.

Zuhause habe ich einen Teil des Materials in Glasschalen gegossen und auf die Wasseroberfläche Deckgläschen gelegt (Näheres zur Technik des ,,schwimmenden Deckglases" und hervorragende Fotos typischer Funde solcher Präparate findet man hier: https://www.mikroskopie-forum.de/index.php?topic=31084.0, https://www.mikroskopie-forum.de/index.php?topic=35140.0).

Nach einigen Tagen waren die Deckgläser reif zur Untersuchung. Schon auf dem ersten Deckglas fielen mir kleine, nur gut 10 µm große Zellen in lockeren Verbünden auf, die in einem zarten Gehäuse leben und über ein Netz feiner Granulopodien miteinander in Kontakt stehen. Es war schnell klar, dass dies granuloreticulose Schalenamöben, nämlich Microgromiiden der Gattung Microgromia, vermutlich M. socialis, sein mussten. Hier zwei Bilder eines solchen kolonialen Verbunds, einmal mit dem Trockenobjektiv 40:1 und dann mit der Ölimmersion 100:1 (einige Granulopodien mit Pfeilen markiert):





Der Phasenkontrast zeigt die Granulopodien (Gp) besonders schön: Hierbei handelt es sich um feine Cytoplasmafäden, die mit winzigen Granulen besetzt sind. In der Nähe der Zellköper – in der folgenden Abbildung sind drei Zellen (1-3) dargestellt – treten gelegentlich Plasmaknoten (Pk) auf:



Untersucht man die Granulopodien genauer, stellt man fest, dass sie ein sehr dynamisches System darstellen. Wie auf zarten Gleisen bewegen sich Granulen (Gr, Größe im Submikrometerbereich) mal gleitend, dann wieder stockend entlang der Granulopodien – und das in entgegengesetzten Richtungen. Im folgenden Bild – einem stark vergrößerten Ausschnitt aus einer Phasenkontrastaufnahme, die dunklen Strukturen links oben stellen Bakterien dar – habe ich zwei Granulen an einem Granulopodium markiert. Diese stehen sich fast gegenüber und bewegten sich zum Zeitpunkt der Aufnahme in entgegengesetzter Richtung, ohne zu kollidieren: 



Besonders eindrucksvoll lässt sich die Bewegung entlang der Granulopodien auf Videosequenzen festhalten. Sehr schönes Videomaterial hierzu findet sich auf den Seiten von Ferry J. Siemensma (siehe hier: https://arcella.nl/microgromia-socialis/).

Auch das System der Granulopodien selbst ist schon auf kurzen Zeitskalen dynamisch. Innerhalb weniger Minuten werden Fäden eingeschmolzen, neu gebildet, es entstehen Verzweigungen und Anastomosen. Im Folgenden ein Beispiel für eine solch dynamische Struktur. Zwischen zwei Zellen hat sich zeitweilig ein verzweigtes und anastomosierendes Granulopodiengeflecht ausgebildet. Der Pfeil verweist auf eine direkte Zell-Zell-Verbindung:



An den Zellen selbst kann man trotz ihrer geringen Größe (um 10 µm) bei möglichst hoher Beleuchtungs- und Objektivapertur zahlreiche Details erkennen. Der Zellkörper ist umgeben von einem zarten Gehäuse (Gh) mit kurzem Hals (Ha). Deutlich tritt der Kern (Nu) mit zentralem Nukleolus (Nc) hervor. Zwischen Kern und Plasmastiel (Ps) liegt die kontraktile Vakuole (kV; Lumen der kV und der Zuführungsvakuole mit * markiert). Der Plasmastiel verlässt das Gehäuse durch den Hals und verästelt sich außerhalb des Gehäuses in das Netzwerk der Granulopodien:



Zweifelsohne dienen die Granulopodien dem Beutefang. Im Detail habe ich dies nicht untersucht, kann aber zumindest eine indizienhafte Beobachtung hierzu beisteuern. Innerhalb einer blasenförmigen Struktur, die ich in meinen Aufzeichnungen ,,Phagocytoseblase" (Pb) genannt habe, fand ich Partikel von wenigen µm Größe eingeschlossen. Ich vermute, dass es sich um Bakterien als Nahrung handelt. Die Phagocytoseblase wanderte entlang eines (sich verkürzenden?) Granulopodiums in Richtung Gehäusehals. Die beiden folgenden Aufnahmen zeigen diesen Vorgang; zwischen den Aufnahmen lagen min 2:40. Den anschließend zu erwartenden Durchtritt der Pb in das Gehäuse konnte ich nicht dokumentieren:





Nähere Einzelheiten zur Taxonomie und Biologie der Microgromiiden findet man unter folgender Referenz:

Kreutz M (2012) Spurensuche nach der Testaceengattung Microgromia. Mikrokosmos 101 (3), 168-175

Großartiges Bildmaterial und weitere Informationen bieten die Websites von Eckhard Völcker und Steffen Clauß (http://www.penard.de/Explorer/Cercozoa/Granofilosea/) sowie – wie schon erwähnt – von Ferry J. Siemensma (https://arcella.nl/microgromia-socialis/)

Beste Grüße

Ole

SNoK

Lieber Ole,

klasse, was Du da wieder entdeckt hast, und die vielen Details...das muss ich erstmal verarbeiten. Du hast eine Referenz von Martin angegeben. Aber wo findet man die?

Grüße
Stephan
Mikroskope: Leica DMRB, Leitz Dialux (beide mit DIK)
Stemis: Zeiss 508, Wild Heerbrugg M5
Kameras: Sony alpha 6500 und 6400
Webseite: https://kralls.de
Vorstellung: https://www.mikroskopie-forum.de/index.php?topic=41749.msg308026#msg308026

Ole Riemann

Lieber Stephan,

danke für die Rückmeldung - und pardon für die zu knappe Zitation. Die Arbeit wurde im Mikrokosmos veröffentlicht, die vollständige Angabe habe ich eingefügt.

Schöne Grüße

Ole

SNoK

Danke Ole!

Ich hatte den Mikrokosmos von 1998 bis zum bitteren Ende im Dezember 2014 abonniert. Aber man bekommt jetzt ohnehin alle Jahrgänge digital. Es lebe die Digitalisierung! Dennoch ist es schön, aus diesem Anlass mal wieder im Mikrokosmos zu blättern und den Artikel von Martin anzuschauen. Es ist wirklich jammerschade, dass es die Zeitschrift nicht mehr gibt. Das ist doch noch mal was ganz anderes als das Mikro-Forum. Und es gibt zwar in Folge vom Mikrokosmos die Zeitschrift von Jörg Piper Mikroskopie, was ich sehr wertschätze, weil ich weiß, was das für Arbeit macht (und ich habe sie auch abonniert); dennoch hat sie einen ganz anderen Charakter und ersetzt nicht den Mikroskomos. So, das waren sentimentale Gedanken eine Buchhändlersohnes, der mit Büchern und Zeitschriften groß geworden ist.

Viele Grüße
Stephan
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Bernd

Hallo Ole,

eine exzellente Dokumentation eines schwierigen Objekts. Wie kriegst du nur diese sauberen Phaco-Aufnahmen hin?

Viele Grüße
Bernd

KayZed

Hallo Ole,

eine tolle Dokumentation!

Ich meine, diese Viecher auch schon mal am schwimmenden Deckglas gesehen zu haben, und konnte mir die feinen Fäden nicht erklären.
Dachte, es seien Bakterien oder Pilze.

Das macht die Mikroskopie im Wassertropfen so spannend, besonders wenn jemand so fachkundig beobachtet wie du.
An deinem Beispiel sieht man mal wieder, dass Phako-Bilder sehr schön und aussagekräftig sein können.
Deine Schicht war wohl extrem dünn.

Schönen Abend
KlausZ
Zeiss Stemi 508
Zeiss Jenaval Kontrast
Nikon Z7

Martin Kreutz

Hallo Ole,

sehr schön, wie Du hier DIK und PhaKo kombiniert hast. Bei diesen feinen Plasmafäden ist Phako klar zu bevorzugen! Ich möchte hier nur ergänzend erwähnen, dass die Gehäuseform von Microgromia socialis recht variabel ist, während die anderen Arten (z.B. M. minor oder M. longisaepimen) eine verhältnismäßig konstante Retortenform mit rundem Gehäuse aufweisen. Dies ist noch neben der Lebensweise in Gruppen ein hilfreiches Merkmal bei der Bestimmung. Ich selbst habe M. socialis leider noch nie gefunden (oder nur übersehen), gebe die Hoffnung aber nicht auf. Du hast ja beschrieben, wo man suchen muss!

Martin   

SNoK

Lieber Ole,

ich habe jetzt auch den Artikel von Martin im Mikrokosmos gelesen. Aber, ich hoffe ich habe das nicht übersehen, mir ist die Funktion der sich bewegenden Granulen nicht klar. Kannst Du mich aufklären?

Grüße
Stephan
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Ole Riemann

Liebe Kollegen,

danke für Eure Rückmeldungen und das Interesse.

Ja, der Phasenkontrast ist bei Objekten wie Microgromia sehr gut einsetzbar. Sie erfüllen ja auch die Anforderungen an Phasenkontrastobjekte perfekt - sie sind dünn, hyalin und bewirken damit nur geringe Phasenverschiebungen gegenüber dem Umgebungslicht. Da die Zellen unmittelbar dem Deckglas anliegen, ist auch die Schichtdicke ideal. Das verwendete Phasenkontrastobjektiv war übrigens ein einfacher Olympus Phako-Achromat 100/1,3 am Olympus BHS. Anschließend habe ich das Bild in Graustufen gewandelt.

Stephan, beim Mechanismus der Bewegung der Granulen muss ich passen. Sicherlich wird das "irgendwie" mit dem Zytoskelett bzw. Motorproteinen zusammen hängen, aber diese Aussage ist trivial.

Schöne Grüße

Ole


SNoK

Lieber Ole,

ich bin jetzt selbst mal auf die Suche nach den Granulen gegangen, und im Wörterbuch der Protozoologie (Rudolf Röttger, 2001) fündig geworden mit zwei Stichworten: Körnchenströmung und Reticulopodium. Ich finde das dort gut erläutert. Ich hänge einen PDF an.

Grüße
Stephan
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