Übungen für fortgeschrittene Stereogucker

Begonnen von Heribert Cypionka, Oktober 30, 2025, 20:31:36 NACHMITTAGS

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Heribert Cypionka

Liebe Raumbild-Fans,

ausgehend von einem anderen Faden, in dem ich mit Hubert einige Aspekte der ( Größen- und Tiefenwahrnehmung bei Stereobildern) diskutiert habe, möchte ich hier einige praktische Übungen anhand von Beispielbildern vorstellen.

Richtig mitmachen kann aber leider nur, wer zumindest eine Rot-Cyan-Anaglyphenbrille hat und am besten auch noch sowohl den Kreuz- als auch den Parallelblick beherrscht. Vorteilhaft ist dabei auch, wenn man PICOLAY installiert hat. Vielleicht kann man dann am Ende auch verstehen, weshalb man bei PICOLAY-Stereobildern den Betrachtungswinkel einstellen kann, je nachdem, ob man die Bilder auf einem Monitor in der Nähe oder auf einer entfernten Leinwand präsentieren möchte...

Hier nun eine Diatomee (Actinoptychus) in einem Anaglyphenbild. Links wurde für die Darstellung eine Distanz (+8) eingegeben, rechts ein negativer Wert (-8), so dass die Zelle vor dem Bildschirm zu schweben scheint. Erreicht wird das durch einfache seitliche Verschiebung der beiden Teilbilder gegeneinander.



Beide Bilder sind gleichgroß. Davon kann man sich überzeugen, indem man sie ohne Brille vergleicht, oder indem man jeweils ein Brillenglas verdeckt. Jedoch erscheint das rechte, scheinbar näher gelegene kleiner. Hier dominiert in unserem Gehirn die Wahrnehmung der räumlichen Tiefe die der Größe. Sprich: Wenn auf unserer Netzhaut die beiden Algen gleichgroß abgebildet sind, die rechte aber näher liegt, dann muss diese "in Wirklichkeit" kleiner sein.

Nun der erste Trick: Dreht die Anaglyphen-Brille, so dass jetzt das rechte Auge durch den roten Filter blickt. Sofort möchte uns unser Gehirn überzeugen, dass die rechte Alge größer als die linke ist! 

Jetzt versuchen wir einmal, das Anaglyphenbild ohne Brille mit dem Kreuzblick zu betrachten. Das gelingt so nicht, da die Farbseparierung fehlt. (Für das Stereo-Sehen sind die Stäbchen farbsensitiven Zäpfchen zuständig, und nicht die Zäpfchen Stäbchen.) Aber mit der Anaglypenbrille auf der Nase kann der Kreuzblick gelingen. Wer es schafft, sieht in der Mitte von drei Bildern ein kleineres Stereobild mit weniger Tiefe als die beiden äußeren ohne Kreuzblick einzeln betrachtet.

Woran liegt nun das? Wir versuchen, der Sache ohne Anaglyphen mit dem Kreuz- und Parallelblick auf die Spur zu kommen. Dazu noch eine Hilfe: Die einfachste VR-Brille der Welt :)



Einfach die Brille mit zwei Papierstreifen im Abstand von 6.0-6.5 cm versehen, so dass das linke Auge nur das rechte Bild sehen kann und umgekehrt. Für den Parallelblick macht man sich einfach einen 5 cm breiten Papierstreifen, den man sich vor die Nase hält, so dass ein Kreuzblick unmöglich ist. Durch diese Tricks kann man verhindern, das beide Augen beide Bilder sehen, und so den Stereoblick leichter einüben. 





Wer mit dem Kreuzblick auf diese beiden Bilder schaut, sieht die dunkleren Dreiecke oben konvex und unten konkav. Mit dem Parallelblick ist es umgekehrt. Wer beides kann, kann vergleichen und wird feststellen, dass mit dem Parallelblick die Tiefe deutlich größer ist als beim Kreuzblick. Woran liegt das nun? Das Gehirn misst auch den Augenwinkel! Und zieht den Schluss: Wenn die Unterschiede der Teilbilder mit parallel ausgerichteten Augen  gesehen werden, müssen sie auf größerer Tiefenausdehnung beruhen, als wenn ich dieselben Unterschiede mit starker Konvergenz sehe.

Dazu nun noch das Königsexperiment für echte Kreuzgucker-Experten:




Ladet euch die beiden Bilder herunter, öffnet sie beide in einem Viewer, der sie gleichgroß darstellen kann (z.B. mit PICOLAY). Schaut sie bzw. das entstehende Stereobild vor grauem Hintergrund mit dem Kreuzblick an (parallel wird es eher schwierig), während ihr die Bilder seitlich aufeinander zu oder voneinander wegbewegt.

Was seht ihr?

Herzliche Grüße und viel Spaß beim Schielen,

Heribert

Peter Reil

Hallo Heribert,

witzige Erfahrung. Je weiter man die Bilder voneinander entfernt, desto kleiner erscheint das Stereobild.

Freundliche Grüße
Peter
Meine Arbeitsgeräte: Olympus BHS, BHT, CH2, CHK, Olympus SZ 30, antikes Rotationsmikrotom

Lupus

#2
Hallo,

die letzte Demo kann man für diejenigen ohne entsprechende technische Möglichkeiten auch auf einem Bild zeigen. Wenn man mit ausreichendem Abstand (damit der Kreuzblick bequemer ist) erst das obere Bildpaar mit Kreuzblick betrachtet, und dann auf das untere übergeht indem man gleichzeitig die Augenkonvergenz etwas erhöht, sieht man den scheinbaren Größenunterschied sehr deutlich. Das hin und her Wechseln zwischen beiden Bildpaaren ist wahrscheinlich auch eine gute Kreuzblick-Übung.  ;)

Kreuzblick Bildabstand.jpg

ZitatWer beides kann, kann vergleichen und wird feststellen, dass mit dem Parallelblick die Tiefe deutlich größer ist als beim Kreuzblick. Woran liegt das nun? Das Gehirn misst auch den Augenwinkel! Und zieht den Schluss: Wenn die Unterschiede der Teilbilder mit parallel ausgerichteten Augen  gesehen werden, müssen sie auf größerer Tiefenausdehnung beruhen, als wenn ich dieselben Unterschiede mit starker Konvergenz sehe.
Das sehe ich im wahrsten Sinn des Wortes allerdings etwas anders. Die (absolute) Tiefenausdehnung des Objekts wird dadurch nicht vergrößert. Ich persönlich habe sogar den Eindruck, dass das durch stärkere Augenkonvergenz kleiner erscheinende Objekt eine etwas größere Plastizität besitzt (relative Tiefenausdehnung im Vergleich zur Objektbreite). Weil die Tiefenausdehnung von der relativen Bildverschiebung einer Struktur im Vordergrund im Vergleich zur Struktur im Hintergrund abhängt. Und die verändert sich durch die unterschiedliche Augenkonvergenz nicht.

Stattdessen kommt der gesamte Verkleinerungseffekt des Objekts durch die vom Gehirn vermutete Diskrepanz zwischen starker Augenkonvergenz (also eigentlich sehr nahes Objekt) und der nur mäßig starken Bildverschiebung (Deviation) zwischen Vorder- und Hintergrundstrukturen. Und daraus folgert das Gehirn dass das Objekt jetzt kleiner (bezüglich Breite und Höhe) sein muss als es real auf der Netzhaut erscheint.
Wenn das Objekt verkleinert erscheint, aber die gleiche Tiefe erkennen lässt wie das original große Objekt, dann wirkt es räumlich plastischer.

Hubert

Heribert Cypionka

Hallo Hubert,

> dein Demobild hat oben keinerlei Tiefe, sondern zeigt offenbar zweimal dasselbe Bild. Könntest du das austauschen?

ZitatIch persönlich habe sogar den Eindruck, dass das durch stärkere Augenkonvergenz kleiner erscheinende Objekt eine etwas größere Plastizität besitzt
> Das kann ich nicht nachvollziehen, sonder sehe es umgekehrt.

ZitatStattdessen kommt der gesamte Verkleinerungseffekt des Objekts durch die vom Gehirn vermutete Diskrepanz zwischen starker Augenkonvergenz (also eigentlich sehr nahes Objekt) und der nur mäßig starken Bildverschiebung (Deviation) zwischen Vorder- und Hintergrundstrukturen.
> Das ist, was ich auch sage ;)

Liebe Grüße,
Heribert


Lupus

Hallo Heribert,

ich habe in der Eile die falsche Bildmontage eingestellt, jetzt ist es ausgetauscht.

Hubert


anne

Lieber Heribert,
das mit Abstand coolste Bild in diesem Beitrag ist das zweite Bild, Du bist einfach ein Unikat!
lG
anne

Gerd Schmahl

Hallo Heribert,
es ist immer wieder faszinierend, was unser Gehirn aus den Informationen macht, die die Augen ihm liefern. Wieder viel gelernt! Besonders das war mir neu:
ZitatFür das Stereo-Sehen sind die Stäbchen zuständig, und nicht die farbsensitiven Zäpfchen.

Danke!
Gerd
Man sagt der Teufel sei, im Detail versteckt,
doch hab' ich mit dem Mikroskop viel Göttliches entdeckt.

Lupus

Hallo,

ZitatFür das Stereo-Sehen sind die Stäbchen zuständig, und nicht die farbsensitiven Zäpfchen. Deswegen kann man Graubilder sehr gut in der Anaglypentechnik berachten.
das dürfte eine Fehlinterpretation sein. Stereosehen entsteht ganz allgemein durch die (leichte) Verschiebung der Netzhautbilder des Augenpaares relativ zueinander. Im Bereich des schärfsten Sehens im Zentrum mit ganz grob etwa 1 mm Durchmesser gibt es sowieso nur Zapfen. Da ist aber Stereosehen auch möglich, wenn man sich z.B. auf eine Struktur konzentriert. Zum Rande hin nehmen die Stäbchen schnell zu und dominieren, das Maximum der Stäbchendichte liegt bei etwa 15°-20° Entfernung von der Gesichtsfeldmitte. Trotz der dann hohen SW-Rezeptorendichte nimmt die Sehschärfe kontinuierlich vom Zentrum zum Rand hin stark ab, bei 20° ist die relative Sehschärfe auf nur noch 10% der zentralen Sehschärfe abgesunken. Das liegt an der Abbildungsqualität der Augenlinse. Aber natürlich lässt sich auch dort noch Stereosehen ermöglichen soweit es die Bildschärfe zulässt.

Der evolutionäre Grund für die - allerdings nur kleinräumige - Verschmelzungsfähigkeit zweier etwas ungleicher Netzhautbereiche (sog. Panumbereich) liegt nach Meinung der Wissenschaft darin begründet, dass es sonst aufgrund der andauernden Augenbewegungen beim Abtasten des Gesichtsfeldes ein sehr störendes Problem mit Doppelbildern gäbe wenn hier nicht eine räumliche Toleranz zur Verschmelzung existieren würde. Stereosehen ist dann sozusagen der dadurch mögliche Zusatznutzen. Die hier schon angesprochenen Stereo-Effekte durch Konvergenz der Augenachsen und unterschiedliche Akkommodation sind nur verstärkende Elemente, die allein kein Stereosehen ermöglichen.

Der Nachweis dass Stereosehen im Gehirn erfolgt und nicht durch die realen Bilder auf der Netzhaut wurde übrigens erstmalig 1959 durch Versuche mit sog. Random-Dot Stereogrammen geführt. Auf diesen Bildern mit zufälligen (meist) SW-Strukturen ist das Stereoobjekt nicht zu erkennen, also auch nicht auf der Netzhaut abgebildet. Erst durch die Analyse im Gehirn ist das Bild sichtbar. Hier ein Beispiel für Kreuzblick, ein Rechteck im Vordergrund. Das 2. Bildpaar zeigt zwei in der Tiefe gestaffelte Rechtecke. Und das dritte Bild ein Einzelbildstereogramm (für Parallelblick) mit einer Kreisscheibe im Vordergrund.

RandomDotStereogramm Rechteck.jpg

RandomDotStereogramm 2Rechtecke.jpg

RandomDotStereogramm Kreis.jpg

Dass man Graubilder gut als Anaglyphen betrachten kann liegt darin begründet, dass man hier keine komplexe Berechnung der Farbaufteilung für das linke und rechte Bild vornehmen muss, die ja nie die realen Farben für beide Brillenfilter voll wiedergeben kann sondern nur sehr eingeschränkt (bei Rot/Cyan-Brillen lässt sich Blau, Grün und Gelb in sehr gedämpfter Sättigung und nur als "schmutzige" Mischfarbe darstellen). Wenn dagegen die rot und cyan eingefärbten Bilder eines SW-Stereopaars in der Intensität so abgestimmt sind dass eine real graue (oder weiße) Bildfläche gleiche Intensitätsanteile für Rot, Grün und Blau aufweist (= Weiß bei additiver Farbmischung), wird das Ergebnis bei der Bildverschmelzung beider Augen neutral Grau.

Hubert

witweb

Hallo zusammen,

again what learned!

Vielen Dank!

Michael
Dieser Post wurde aus recycelten Elektronen erstellt
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Leitz Orthoplan
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Thomas M

Hallo Hubert,
danke für die Erläuterungen.

Zitat von: Lupus in November 01, 2025, 11:34:21 VORMITTAGHier ein Beispiel für Kreuzblick, ein Rechteck im Vordergrund. Das 2. Bildpaar zeigt zwei in der Tiefe gestaffelte Rechtecke. Und das dritte Bild ein Einzelbildstereogramm (für Parallelblick) mit einer Kreisscheibe im Vordergrund.

Im ersten Bildpaar sehe ich übrigens gestaffelt ein Quadrat im Vordergrund und ein dahinter liegendes Rechteck mit (scheinbar) gleicher Kantenlänge wie das Vordergrund-Quadrat in y-Richtung und längerer Kante in x-Richtung.

Das Bildpaar 2 und Bild 3 dann so wie Du es beschrieben hast.

Grüße
Thomas

Siegfried

Hallo Hubert,
danke für deine Ausführungen. Ich sehe allerdings bei entsprechendem Abstand sogar bei jedem Bildpaar 3 Ebenen und auch beim 3. Bild 3 Ebenen. Wenn ich das erste und zweite Bildpaar in der Höhe auf dem Monitor zusammen postiere, sehe ich beide gleichzeitig zu je drei Ebenen.
   Gruß von Siegfried

Lupus

Hallo Thomas,

ZitatIm ersten Bildpaar sehe ich übrigens gestaffelt ein Quadrat im Vordergrund und ein dahinter liegendes Rechteck mit (scheinbar) gleicher Kantenlänge wie das Vordergrund-Quadrat in y-Richtung und längerer Kante in x-Richtung.
dann bist Du in den Parallelblick geraten, dabei invertiert sich die Tiefenstaffelung.
Richtig ist dass auch das vor dem Hintergrund schwebende Rechteck speziell bei Fokussierung auf den seitlichen Randbereich des Rechtecks noch eine dort herausragende, zwischen Rechteck und Hintergrund liegende Fläche zeigt.

Hubert

Lupus

Hallo Siegfried,

z.T. gilt das gerade Gesagte bei Parallelblick. Man kann bei entsprechenden "Einrastungen" der Blickrichtung auch wie von Dir beschrieben die 3 Ebenen sehen, das liegt an der Methode dass hier ja kein echtes Bild besteht sondern die Formen durch rechnerische Verschiebung des Zufallsrasters entsteht. Da kann man auch bei entsprechendem größerem Schielwinkel solche Effekte erzielen.

Hubert

Heribert Cypionka

#14
Hallo Hubert,

Danke für die Richtigstellung wg. Stäbchen und Zäpfchen, das hatte ich verwechselt und hab's korrigiert!

Einen versehentlichen Parallelblick kann man durch Scheuklappen (Bild 2) oder einen entsprechenden 6 cm-Spalt zwischen den hochgehaltenen Händen leicht verhindern. Dann sieht man immer noch die von Siegfried beschriebenen 2 Rechtecke im ersten Bild.

LG
Heribert