Lacerus pespelicani – Der "Fuß des Pelikan"

Begonnen von Martin Kreutz, Dezember 23, 2014, 21:58:13 NACHMITTAGS

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Martin Kreutz

Liebes Forum,

ich möchte hier den sehr seltenen und seltsamen Ciliaten Lacerus pespelicani vorstellen, der 1922 von Penard erstmals als Legendrea pespelicani beschrieben wurde. Zu der Gattung Legendrea zählen Ciliaten, die den Spathidien nahe stehen. Wie die Spathidien besitzen sie einen spatelförmigen Mundspalt, der mit Extrusomen besetzt ist. Sie grenzen sich von den Spathidien jedoch durch den Besitz von papillenförmigen Extrusomenbündeln ab, die entlang einer gedachten Verlängerungsline des Mundspaltes über dem Körper verteilt sind (meridionale Anordnung). Man stellt sich vor, dass sich diese Extrusomenbündel entwicklungsgeschichtlich durch eine Segmentierung und Aufgliederung des Mundspaltes gebildet haben. Diese separaten Bündel können entweder am Ende von Tentakeln sitzen (wie bei Legendrea loyezae, https://www.mikroskopie-forum.de/index.php?topic=21775.0) oder als papillenförmige Erhebungen auf dem Zellkörper. Vertreter mit papillenförmigen Extrusomenbündeln haben Ähnlichkeit mit einer Seemine, mit über dem Körper verteilten ,,Zündern". Man kann sich vorstellen, dass diese Anordnung die Wahrscheinlichkeit eines Kontaktes mit einem Beutetier erhöht. Anfangs wurden alle diese Arten unter der Gattung Legendrea zusammengefasst, welche 1908 mit der Erstbeschreibung von Legendrea loyezae durch Fauré-Friemet erstellt wurde. Diese Taxonomie wurde von Penard (1914, 1922) und Kahl (1935) so übernommen. Später hat Jankowski (1967) dann die beiden Gattungen Thysanomorpha und Lacerus definiert und die vorher in der Gattung Legendrea geführten Arten nach ihren Merkmalen weiter unterteilt. Zu Thysanomorpha wurden solche Arten gestellt, deren Papillen tentakelartig ausstreckbar und kontrahierbar sind (retraktil). Die Papillen oder Tentakel der Gattung Lacerus sind dagegen nicht retraktil und zudem auf der hinteren als auch auf der vorderen Körperhälfte zu finden, wodurch die zuerst von Penard (1922) beschrieben Art Legendrea pespelicani zu Lacerus gestellt wurde. Schließlich verblieben all diejenigen Arten in der Gattung Legendrea, die keine retraktilen Papillen oder Tentakel besitzen und die sich ausschließlich in der hinteren Körperhälfte befinden (wie Legendrea loyezae). Der Originalartikel zu dieser Aufgliederung von Jankowski steht nur in Russisch zur Verfügung und ich beziehe hier mich auf ein englischsprachiges Abstract. Diesen kurzen Abriss zur Historie und Abgrenzung der Gattungen und soll zum Verständnis der Zuordnung der hier beschriebenen Art dienen.   

Die Erstbeschreibung von Lacerus pespelicani durch Penard beruhte auf den Fund eines einzigen Exemplars. Obwohl Penard 90 Jahre alt geworden ist und sicher tausende Proben untersucht hat, blieb es bei dieser einen Begegnung. Weitere Funde sind seither nicht dokumentiert. Auch Kahl hat 1935 nur die Beschreibung von Penard übernommen. Bei dieser Historie sehe ich es als einen besonders glücklichen Umstand an, dass ich gleich zweimal Lacerus pespelicani finden konnte. Der Fundort ist in beiden Fällen das Simmelried bei Hegne, einem ca. 1 ha großem Niedermoor (N 47°43'5.30", E 9° 5'35.77"). Hier fand ich im Oktober 2007 in den obersten Schichten des Faulschlammes in ca. 50 cm Tiefe insgesamt 3 Exemplare von Lacerus pespelicani und 7 Jahre später, im Juli 2014, weitere 6 Exemplare.

Bei meiner ersten Begegnung mit Lacerus pespelicani im Oktober 2007 konnte ich drei Exemplare isolieren, die alle deutlich lateral abgeflacht waren. Die auf der Dorso-Ventrallinie angeordneten Papillen traten deutlich sichtbar aus dem Zellkörper heraus (s. Abb. 1).


Abb. 1: Lacerus pespelicani aus dem Fund Oktober 2007 im Vergleich zur Originalzeichnung von Penard von 1922 (c). Das Exemplar ist 305 µm lang. Aufgrund der starken lateralen Abflachung sind die 12 Papillen gut zu erkennen (Nummerierung 1–12). a = halb dorsale Sicht, b = rechte Ansicht.

Fast hatte es den Anschein, als wäre die Zellmembran zwischen diesen Papillen aufgespannt. Dies mag ein Grund für den Gattungsnamen Lacerus (= zerissen, zerfetzt, evtl. in Anspielung auf den zergliederten Mundspalt) durch Jankowski und  dem Artennamen pespelicani (= Fuß des Pelikans) durch Penard sein. Letzterer fühlte sich vielleicht an eine Schwimmhaut erinnert, die zwischen den Zehen des Pelikans aufgespannt ist oder an eine entsprechend geformte Muschel mit dem Namen "Pelikanfuß" (Aporrhais pespelecani). Die 7 Jahre später gefundenen 6 Exemplare unterschieden sich von dieser Körperform deutlich. Es schien sich durchweg um gut genährte Exemplare zu handeln, welche in der vorderen Körperhälfte fast drehrund waren und nur das Hinterende abgeflacht auslief (s. Abb. 2).


Abb. 2: Lacerus pespelicani aus dem Fund Juli 2014. Das Exemplar ist 240 µm lang. a = rechte Ansicht, b = ventrale Sicht.

Diese ,,dickere" Form war bei kleinen Vergrößerungen leicht mit Holophrya ovum zu verwechseln, welcher auch in den Proben zu finden war, weil sich die Papillen nicht so deutlich am Körperrand abhoben.

Die Anordnung der charakteristischen Papillen von Lacerus pespelicani konnte ich am besten an den ,,Pelikanfüßen" von 2007 untersuchen, bei denen es sich eventuell um Hungerformen handelte. An ihnen ließ sich die Zahl und Position der Papillen auf dem ventralen und dorsalen Rand des Zellkörpers sehr gut bestimmen. Bei der Simmelried Population sind konstant 12 dieser Extrusomenwarzen vorhanden, die bei einer Zählung im Uhrzeigersinn, ausgehend von der apikal gelegenen Papille, wie folgt angeordnet sind:

Nr. 1, 2:              apikal
Nr. 3 -7:              ventral
Nr. 8, 9:              terminal
Nr. 10 -12:           dorsal

Dieser Befund ist nicht homogen mit den Angaben und Zeichnungen von Penard (1922), der für diese Art 10 Papillen angibt. Es ist schwer vorstellbar, dass Penard die gut sichtbaren Papillen übersehen hat. Ob es sich um eine übliche Varianz handelt oder um eine neue Art, kann auf Grund der wenigen, bisherigen Funde nicht entschieden werden. Die terminalen Papillen 8 und 9 zeichnen sich durch eine scheinbar schräg abgewinkelte Anordnung aus, welche in lateraler Sicht gut sichtbar ist (s. Abb. 2a). Sie wird  durch die darunter liegen kontraktile Vakuole verursacht. Durch ihr Volumen ist die aufliegende Plasmaschicht sehr dünn und die Extrusome der Papillen 8 und 9 können sich dadurch nicht senkrecht zur Zellmitte anordnen. Dadurch scheinen sie etwas wie ,,schiefe Zähne" angeordnet zu sein. In einer dorsalen Ansicht konnte ich erkennen, dass die Anordnung der Papillen recht genau dem Verlauf der meridionalen Dorsallinie folgt. Die Papillen haben einen Durchmesser von ca. 15 – 18 µm und werden durch dichte Bündel von 24 – 27 µm langen, leicht gebogenen Extrusomen gebildet, die im Plasma ,,versenkt" sind.

Der apikale Mundspalt des Ciliaten ist nicht leicht auszumachen, wird aber nach meinen Beobachtungen von den Papillen 1 und 2 begrenzt, welche zugleich auch ein Teil des Mundspaltes sind (s. Abb. 3).


Abb. 3: Der Mundwulst von Lacerus pespelicani ist durch die Papillen 1 und 2 begrenzt und zugleich auch Teil der Mundöffnung. In rechts lateraler Ansicht (a) und in ventraler Ansicht (b). EX = Extrusomenbündel; MS = Mundspalt, MW = Mundwulst, P1, P2 = Papillen 1 und 2, Pfeilköpfe = Lage von P1 und P2.   

Die Körperlänge aller 9 Exemplare lag zwischen 250 und 310 µm und somit etwa 30 % größer als das Exemplar von Penard, für das er eine Länge von 210 µm angibt. Das Zellinnere war bei allen untersuchten Exemplaren durch die ölartigen Reservestoffe schwer zu untersuchen. Nur die terminal liegende kontraktile Vakuole war gut sichtbar. Erst bei gequetschten Exemplaren ließ sich der 200 – 220 µm lange und 7 – 10 µm dicke, wurstförmige Makronukleus gut erkennen (s. Abb. 4). Einen Mikronukleus konnte ich in keinem der untersuchten Exemplare ausmachen, bedingt durch die vielen Reservestoffe.


Abb. 4: Der Makronukleus von Lacerus pespelicani ist ca. 220 µm lang und meist U-Förmig angeordnet. Ma = Makronukleus.

Wie bei Legendrea loyezae fanden sich bei Lacerus pespelicani zwei unterschiedlich große Bakterien im Plasma, welche mit hoher Wahrscheinlichkeit symbiontischer Natur sind (s. Abb. 5). Die kleinere Form (ca. 3 x 0,5 µm) erschien zumindest äußerlich identisch zu sein mit der kleineren Bakterienart in Legendrea loyezae (https://www.mikroskopie-forum.de/index.php?topic=21775.0). Die zweite Bakterienart jedoch, mit konisch geformten Zellenden und einer Größe von ca. 7 x 1 µm, unterscheidet sich deutlich zu den zylindrisch geformten, 4 – 5 µm langen Bakterien in Legendrea loyezae.


Abb. 5: Symbiotische Bakterien in Lacerus pespelicani. KB = kleine Bakterien, GB = große Bakterien, EX = Extrusom.

Dorsal am Mundspalt schließt sich eine dreireihige Dorsalbürste mit ca. 3,5 µm langen Borsten an (s. Abb. 6).


Abb. 6: Die dreireihige Dorsalbürste (DB) von Lacerus pespelicani.

Bei allen Exemplaren von Lacerus pespelicani konnte ich keinerlei Anzeichen dafür finden, dass die Papillen ausstreckbar sind. Zudem finden sich die Papillen auch im vorderen Körperdrittel. Daher liegen auf Grund der bisherigen Beobachtungen keine Merkmale vor, die für eine Zugehörigkeit zur Gattung Thysanomorpha sprechen würde. Bei Thysanomorpha bellerophon (Penard, 1914), dem einzigen Vertreter dieser Gattung, sind die Papillen ausstreckbar und nur auf den hinteren zwei Dritteln des Zellkörpers beschränkt. Von Thysanomorpha bellerophon gibt es dokumentierte Nachweise nur durch den Erstbeschreiber Penard (1914) und danach erst wieder aus dem Jahre 2005 durch William Bourland in Idaho. Auf seinen Fotos (Bourland, 2005: http://pinkava.asu.edu/starcentral/microscope/portal.php?pagetitle=assetfactsheet&imageid=21732) sind die wesentlichen Merkmale dieser Art, wie z.B. die retraktilen Tentakel, deutlich zu erkennen. Zudem besitzt Thysanomorpha bellerophon etwa doppelt so viel Extrusomenpapillen wie Lacerus pespelicani. Es gibt also genügend Merkmale, die Thysanomorpha bellerophon von der hier beschiebenen Art Lacerus pespelicani eindeutig abgrenzen. 

Leider konnte ich bei allen 9 Exemplaren Lacerus pespelicani nie die Nahrungsaufnahme beobachten, um so etwas über die Rolle der Papillen zu erfahren. Jedoch hatte ich Glück und eines der Exemplare enthielt eine gefüllte Nahrungsvakuole. Diese enthielt die Überreste von mindestens drei Beuteorganismen (s. Abb. 7). Bei einem handelte es sich um ein Rädertier, welches sich an Hand der unverdauten Kauerreste der Gattung Cephalodella zuordnen ließ (wahrscheinlich C. giganthea oder C. tenuiseta). Daneben konnten mindestens 2 Exemplare von Euglena sanguinea identifiziert werden, auf Grund der Form der Paramylonkörner und des stumpfen Endstachels. Sowohl die beiden möglichen Arten von Cephalodella als auch E. sanguinea fanden sich häufig in der Probe.


Abb. 7: Nur einer der insgesamt 9 gefundenen Exemplare von Lacerus pespelicani wies eine gefüllte Nahrungsvakuole auf (a). Darin ließ sich der unverdaute Kauer eines Rädertieres nachweisen (wahrscheinlich Cephalodella giganthea oder Cephalodella tenuiseta) und Überreste von Euglena sanguinea (b). AF = Augenfleck von E. sanguinea, ES = Endstachel, KA = Kauer, NV = Nahrungsvakuole, PA = Paramylonkörner von Euglena sanguinea.

Zumindest für diese Art ist somit belegt, dass große und bewegliche Beute gefangen wird und das Lacerus pespelicani kein Nahrungsspezialist zu sein scheint. Ich habe versucht den Beutefang in einem Mikroaquarium zu beobachten und dafür 3 Exemplare Lacerus pespelicani isoliert. Jedoch starben sie schon nach wenigen Stunden ab, wahrscheinlich wegen der Präsenz von Sauerstoff.

Ich möchte mich ganz herzlich bei Ernst Hippe für die Nachhilfe in Latein bedanken und bei Michael Plewka, für die Identifizierung des Rädertier-Kauers in der Nahrungsvakuole von Lacerus.   

Viel Spass beim Lesen und anschauen! Allen einen schönen Abend!

Martin


Literaturhinweise:

Jankowski, A.V.: New genera and subgenera of classes Gymnostomea and Ciliostomea. – Materials of the V Conference of Young Scientists of Moldavia. Akad. Sci. Moldav. SSR, Kishinev, year 1967: 36 (1967).

Kahl, A.: Urtiere oder Protozoa (Infusoria). In: Dahl, F. (Hrsg.): Die Tierwelt Deutschlands, Gustav Fischer Verlag,  Jena (1935).

Kreutz, M., Foissner, W.: The Sphagnum ponds of Simmelried in Germany: A biodiversity hot-spot for microscopic organisms. - Protozoological Monographs 3, 1 – 267 (2006).

Penard, E.: Un curieux Inf. Legendrea bellerophon. Rev. Suisse Zool. 22, 407 – 433 (1914).

Penard, E.: Etudes sur les infusoires d'eau douce. Georg & Cie, Geneve (1922).




koestlfr

#1
Lieber Marti!

W A H N S I N N!

Ich hab deinen Beitrag verschlungen - sowohl mikro-/fotografisch als auch textlich!

Liebe Grüße und frohe Festtage
Franz
Liebe Grüße
Franz

the_playstation

Hallo Martin.
Ich bin wieder einmal begeistert und frage mich langsam ernsthaft: Hast Du zu Hause eine Auffangstation für seltene Ciliaten? Es grenzt ja schon an ein Wunder, was Du so alles "findest". :)
Liebe Grüße Jorrit.
Die Realität wird bestimmt durch den Betrachter.