Neues vom Glockentierchen: (Links-rechts, die 2. )

Begonnen von Michael Plewka, Dezember 12, 2024, 17:54:52 NACHMITTAGS

Vorheriges Thema - Nächstes Thema

Michael Plewka

Hallo zusammen,

Im Zusammenhang mit den neulich dargestellten Beitrag ergibt sich eine weitere Frage, welche  in diesem Beitrag hier an einigen Beobachtungen näher erläutert werden soll. Dabei geht es  auch wieder um die so genannten Glocken"tierchen".

Viele Arten dieser  Glocken"tierchen" sind  mit einem Stiel am Substrat befestigt, sind also sessil. Wie bei allen sessilen Lebewesen besteht somit das Problem, sich nicht  bei Veränderung der Umweltbedingungen oder zur Fortpflanzung an einen anderen Ort begeben zu können.  Außerdem kann die  Nahrungsaufnahme  bei sessilen Organismen nur durch Wasserbewegung erfolgen; diese wird bei den Glocken"tierchen" durch den Cilienschlag des adoralen Cilienkranzes bewirkt. Der effektive Cilienschlag ist dabei  in Richtung Stiel. In Verbindung mit der metachronen Welle im entgegengesetzten Uhrzeigersinn liegt hier somit dexioplektische Metachronie vor.
 
 Aber  auch bei den Glockentierchen gibt es  eine bewegliche Form, die hier als Schwärmer bezeichnet wird. Das bedeutet, dass sich unter bestimmten Bedingungen (Verschlechterung der Umweltbedingungen oder aber für sexuelle Fortpflanzung) die Zelle vom Stiel ablöst und dann woanders hin schwimmen kann, so dass es zum Beispiel möglich ist,  mit Artgenossen eine Konjugation einzugehen. Dabei wird ein weiterer Cilien Kranz, der sich am entgegensetzen Ende befindet (aboraler Kranz)  gebildet und der adorale Cilienkranz verschwindet.

Dabei stellt sich nun im Kontext des vorherigen Beitrags zur metachronen Bewegung die Frage, wie sich die Cilien des  neuen Cilienkranzes  bewegen: bewegen Sie sich in der selben Weise wie die Cilien des  ursprünglichen Cilienkranzes ?

In einer weiteren  Wasserprobe fand  ich nun eine Vorticella-Form




bei der ich beobachten konnte,  wie sich ein solcher Schwärmer verhält, d.h. sich vom Stil ablöst und sich vor, während und danach die  Cilien des aboralen  Kranzes  bewegen.


Zunächst einmal muss man überhaupt erst mal einen solchen sich bildenden Schwärmer erkennen. Erkennbar sind sich bildende Schwärmer nach meinen Beobachtungen  an dem sich zurückbildenden adoralen Cilienkranz (weg vom Stiel) und dem sich bildenden Cilienkranz in der Nähe des Stiels.
In dem Video hier:

https://www.youtube.com/watch?v=Hbs8Yrj96bU

kann man sehen, dass

1. die metachrone Wellenbewegung  des aboralen Cilienkranzes  deutlich langsamer ist als die Wellen des adoralen Cilienkranzes.

2.  die metachronen Wellen  des aboralen Cilienkranzes  sich unregelmäßig bzw. chaotisch bewegen

3.  dennoch  eine Bewegung im Uhrzeigersinn erkennbar  ist  (bezogen auf die Blickrichtung von oben auf die Mundregion).

4. noch keine Unterscheidung zwischen dem effektiven Schlag (mit geradem Cilium) und dem Rückholschlag (mit gebogenem Cilium) zu erkennen ist. In beide Richtungen verbiegen sich die Cilien so,  wie eine  Peitsche sich bewegen würde. Die Folge davon scheint zu sein, dass in dieser Phase kein Wasserstrom entsteht, der als Vortrieb wirken könnte.

In der halben Stunde, in der  dieser Vorgang beobachtet wurde, muss sich offenbar auch die Verbindung zwischen Stiel und Zellkörper (enzymatisch?) auflösen, so dass  abschließend eine Trennung erfolgt. In dieser Trennungsphase wackelt der Zellkörper für einige Sekunden und schwimmt anschließend mit dem aboralen Wimperkranz voran weg. Die metachrone Welle des aboralen Wimperkranzes bewegt sich dabei (bezogen auf die ursprüngliche Blickrichtung auf den Mund) im Uhrzeigersinn, d.h. entgegengesetzt zu dem (mittlerweile zurückgebildeten) adoralen Cilienkranz. Aus der Schwimmrichtung lässt sich schlussfolgern, dass der effektive Cilienschlag ,,nach hinten" , d.h. in Richtung der Mundregion erfolgen muss. Daraus ergibt sich, dass die Zelle auch bei dem aboralen Wimperkranz ein dexioplektisches System installiert hat.


Es bleibt aber  ein Rätsel, durch welche Strukturen  die Zelle diese zwei unterschiedlichen Drehrichtungen der metachronen Wellen realisiert.

Beste Grüße
Michael Plewka

Spectrum

Hallo,
extrem beeindruckende Aufnahmen.
Es ist schon unglaublich faszinierend, wie es diesen kleinen Lebewesen gelingt, auf solch begrenzen Raum,  mit einer dementsprechend begrenzten Anzahl an Molekülen, solch komplexe Reaktionen zu organisieren.
Diese Regelwerke der Natur im Miniaturformat lassen mich auch immer wieder aufs Neue ehrfürchtig staunen...
Die Grundfunktion der Mikrotubuli zu verstehen ist das eine, aber welcher Regelkreis steuert solche Vorgänge wie in deinem Video???
Ich glaube zwar nicht an Wunder, aber das kommt dem schon irgendwie nahe.
Vielen Dank für diesen Beitrag.
Eine Frage noch zur Aufnahmetechnik: Wie hast du es bloß geschafft genügend Licht für die Zeitlupenaufnahmen bis zum Kamerasensor "durchzubekommen", ohne das es zu Artefakten (Rauschen, rolling shutter Effekt) kam?
MfG Holger
Holger
Duzen und meine Bilder (auch ungefragt)  bearbeiten, mit eigenen Aufnahmen ergänzen und weitergeben erwünscht!

purkinje

Hallo Michael,
faszinierende Geschichte und wunderbare Video-Aufnahmen!
Du wirst Dir ja zum Mechanismus dieser beobachteten recht raschen Cilienschlag-Umkehr schon reichlich eigene Gedanken gemacht haben. Dass aber nur wenig Änderung an der Grundmechanik notwendig sein muss, um eine Richtungsumkehr bei Bewegungen zu erzeugen zeigt zB ein allseits beliebter "Familienspass", die sog Hui-Maschine (https://www.youtube.com/watch?v=h4ggTZmMWFc). Nur wenig Konformationsänderung an der Verankerung der Cilien könnte so zur Richtungsänderung beitragen, ohne dass das biomechanische Grundprinzip grundlegend geändert werden müsste.
Nur eine Idee.
Dank Dir, dass Du uns an diesesem faszinierenden Phänomen des Schwärmens teilhaben lässt.
Beste Grüße Stefan

Michael Plewka

Hallo Holger, hallo Stefan,

vielen Dank für Euer Interesse an den Beobachtungen.
Um Missverständnisse zu vermeiden, möchte ich noch mal betonen, dass bei Vorticella keine!!  Umkehr des  Cilienschlags zu beobachten ist!

Um bei dem Vergleich mit der HUI-Maschine zu bleiben: bei dieser  ist der ,,Propeller" gar keiner, weil er quasi 2-dimensional ist und somit  keine ,,Steigung" (,,Luftschraube" >> wie ein Gewinde)  hat. Zwar ist es faszinierend zu sehen, wie die Drehrichtung geändert wird, aber egal in welche Richtung er dreht: in dem HUI-Video  kann er  keinen Vor/Rücktrieb erzeugen.

Genau das ist nun bei Vorticella anders: hier liegt ein ,,Propeller" vor, d.h. eine räumliche Anordnung  aus Cilien mit einer bestimmten effektiven Schlagrichtung, die zeitlich nacheinander (metachron)  schlagen und dadurch zusätzlich die Illusion einer  Drehrichtung ergeben.
Und genauso wie es bei ,,Luftschrauben"  zwei unterschiedlichen Steigungen geben kann (die somit bei unterschiedlichen Drehrichtungen denselben Vortrieb erzeugen), lassen sich  bei den  Cilienanordnungen von allen Organismen  zwei unterschiedliche Fälle unterscheiden, die sich an der Bewegungsrichtung der metachronen Welle orientieren: effektive Schlagrichtung nach links (Laeoplexie) und effektive Schlagrichtung nach rechts (Dexioplexie);  hier noch durch Zeichnungen erläutert:
https://www.plingfactory.de/Science/Atlas/KennkartenTiere/Rotifers/01RotEng/E-TL/ID_Bdelloid/morphology/src%20/E_02_frontal_aspects.html


Wie schon gesagt, ist das Fortbewegungssystem  (der ,,Propeller") des Schwärmers von Vorticella über die Cilien auf der adoralen und aboralen Seite nach meinen Beobachtungen identisch, nämlich dexioplektisch. Bloß ist es auf der aboralen Seite umgekehrt ,,eingebaut".

Für mich ist daher eher die Frage, bei welchen Organismen es  -in Analogie hierzu- eine ,,Luftschraube"  mit entgegengesetzter Steigung gibt, somit die leoplektische Metachronie. Für Ciliaten scheint so etwas  nicht zu existieren, und da wäre dann die Frage, warum nicht.

Rein vom physikalischen  (hydroynamischen) Aspekt her  ist es nach  meinem Verständnis   ja egal, ob sich die Cilien dexiolplektisch oder laeoplektisch bewegen, solange die Fortbewegungsrichtung stimmt. 
Dabei kommt noch ein weiterer Aspekt dazu: viele Ciliaten (alle???) sind ausgesprochen asymmetrisch, insbesondere was  die Lage des Mundbereichs/ Mundtrichters angeht. Insofern könnte die Dexioplexie bei Vorticella auch eine Folge der Chiralität des Mundtrichters sein. Aber selbst dann wäre die Metachronie des neu gebildeten Wimperkranzes egal.

Noch was zur Technik: bevor  die Kamera (LUM!X GH 6) zum Einsatz kam, hatte ich auch vorab etliche Monate experimentiert, die Beleuchtungstechnik am Mikroskop für diese Aufnahmen zu optimieren (u.a. LED-COBs mit 100W, mit und ohne PWM). Im Endeffekt hat sich dann aber gezeigt, dass diese relativ moderne Kamera  relativ unkritisch  erlaubt, Lebensvorgänge bei Mikroorganismen  mit 300 Bildern pro Sekunde und einer Belichtungszeit von 1/1000 Sekunde zu dokumentieren, wobei der ISO Wert je nach Objektiv/Vergrößerung zwischen 2000 und 4000 liegt. Als Lichtquelle wird dabei eine Cree LED X HP 70.2 mit 2000 mA bei 12 V bestromt. Abgesehen von der optischen Einrichtung das Setups kommt hinzu, dass moderne Video-Bearbeitungs-Programme eine wirklich  sehr gute Optimierung der ursprünglichen Aufnahmen möglich machen (Ist aber eine steile Lernkurve). Damit ergibt sich eine erstaunlich praktikable Balance (es gibt auch Ausnahmen) zwischen der auf die Organismen eingestrahlte Lichtmenge und dem Rauschen der Aufnahmen.

Dabei ist ein weiteres Problem jedoch ein präparationstechnisches: um  beispielsweise Vorticella ,,von oben"  d.h. auf den Mundbereich fotografieren zu können, muss die Schichtdicke zunächst mal sehr hoch sein (durch Vaselineränder am Deckglas), damit das Viech  überhaupt senkrecht stehen kann. Ein anschließendes  vorsichtiges Absenken des Deckglases  ist immer mit der Gefahr verbunden, dass die Cilienbewegung durch das Deckglas gestört wird. Somit muss eine gewisse  hohe Schichtdicke in Kauf genommen werden.  Das verhindert ,,schöne" Aufnahmen, auf die es mir aber bei diesen Bewegungstudien gar nicht ankommt.


Beste Grüße
Michael Plewka

Jürgen H.

Lieber Michael,

ein wenig scheint mir Dein Thema mit der Frage verwandt zu sein, wie es möglich ist, dass sich die Spermien einiger Insekten, z.B. die von drosophila, bidirectional bewegen können: Kopf voran und auch Schwanz voran. Bei besonders langen Spermien scheint der Richtungswechsel erforderlich zu sein. So können die Spermien Schwanz voran in das receptaculum schwimmen, um von dort aus trotz ihrer Länge und den engen Gegebenheiten des receptaculums wieder Kopf voran möglichst rasch das Ei zur Befruchtung erreichen zu können. Die sinusoidalen oder auch helicalen Wellenformen des flagellums verlaufen dann entsprechend entweder beginnend vom Kopf zum Schwanzende oder umgekehrt vom Schwanzende zum Kopf.

https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC3080424/

Ein interessantes und schönes und gut dargestelltes Thema hast Du, herzlichen Dank!

Viele Grüße

Jürgen


Michael Plewka

Hallo Jürgen,

vielen Dank für den Kommentar, aber vor allem für den Literaturhinweis, den ich für sehr spannend und hilfreich halte. In dieser Arbeit wird ja auch noch mal deutlich, dass selbst die Vorgänge bei der Bewegung eines einzelnen Ciliums bzw. Flagellums wie z.B. bei  -allgemein gesprochen- Fortpflanzungszellen, bisher nur teilweise verstanden sind. Trotz des allgemein vorhandenen Grundschemas des Axonemaufbaus 9x2+2 gibt es ja schon verschiedene Bewegungsformen (u.a.helicoidal, sinusoidal), welche unter verschiedenen Bedingungen innerhalb eines Ciliums auch wechseln können.

Noch komplexer ist der Sachverhalt bei Cilienarrays,  so wie beispielsweise bei Ciliaten, Rädertieren, Muscheln, Rippenquallen oder Säugetier(lung)en.  Deshalb  gibt es  hier immer die Koordination der Cilien, was es bei einzelnen Cilien bzw. Flagellen prinzipiell nicht gibt.

Dabei ruft  die Vielfalt der unterschiedlichen Strategien, welche die zig verschiedenen Organismengruppen im Lauf der Evolution bezüglich der ,,Verwendung" der Cilien entwickelt haben, bei mir immer einen  großen ,,wow!" - Effekt hervor.

Beste Grüße
Michael Plewka

Spectrum

 Hallo Michael,
Absolut faszinierend.
Und wenn man sich dann auch noch die Bewegungsmuster anschaut, wie beispielsweise ein Paramecium an einem Hindernis stoppt, ein Stück zurückschwimmt dreht um dann erneut vorwärts zu schwimmen usw.
Ja, dann frage ich mich immer wie so etwas auf molekularer Ebene abläuft, und vor allem wie  das alles "geregelt" wird.
Das müssen ja Strukturen/chemische Reaktionen sein, die in der Lage sind Umweltreize, sowohl wahrzunehmen, als diese auch in kurzer Zeit(!) in solch eine (aus molekularen Sicht hochkomplexe)  Reaktion umzusetzen...
Und das alles findet in Bruchteilen eines Millimeters statt, kann sich selbst reproduzieren und seinen Bauplan evolutionär anpassen...
Wow!!! Wirklich unfassbar!

Vielen Dank auch für deine Informationen zur Aufnahmetechnik.
Auch sehr beeindruckend!
Gruß Holger

Holger
Duzen und meine Bilder (auch ungefragt)  bearbeiten, mit eigenen Aufnahmen ergänzen und weitergeben erwünscht!