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Prozessionsspinner

Begonnen von Jürgen H., Januar 25, 2023, 21:10:19 NACHMITTAGS

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Jürgen H.

Guten Tag zusammen,

heute vormittag lief mir eine Prozession des Kiefernprozessionsspinners über den Weg, ca 30 Räupchen schön aneinandergekettet.

Mit einem Stöckchen habe ich eine Raupe ungefähr aus der Mitte  der Kette entfernt und etwa fünf Zentimeter beiseite geschoben. Wenige Sekunden später blieb der  gesamte vordere Teil der Kette bewegungslos stehen. Der hintere Teil bemühte sich, die Lücke zu schließen. Dabei behielt der ,,Kopf" des hinteren Teils in etwa die bisherige Laufrichtung bei, jedoch langsam und stets nach mehreren Richtungen suchend, anscheinend, ohne eine neue Prozessionsgruppe zu bilden sondern um das Ende des vorderen Teils zu finden. Sobald ihr der Anschluss gelungen war und die Verbindung hergestellt war, ging der Lauf der Prozession weiter.

Die beiseite geschobene einzelne Raupe war zunächst nicht in der Lage,  die Kette zu finden, eine bestimmte Orientierung in eine Richtung konnte ich nicht feststellen. Eine Geruchsorientierung zur Kette gibt es bei dem Abstand von etwa nur 1-2 Zentimetern offenbar nicht. Erst als ich sie in unmittelbare Nähe - auf ca. einen halben Zentimeter Abstand zur Kette geschoben habe, fand sie zur Kette zurück, was mir eher ein zufälliges Tastergebnis zu sein schien. Nur mit einiger Mühe gelang es ihr dann, sich in die Kette einzuordnen, nachdem drei Verkettungsstellen an ihr vorbei prozessioniert waren.

Mitunter tritt bei der Prozession eine minimale Lücke zwischen zwei Tieren von 1 bis 2 Millimetern auf, was aber den Fortgang der Prozession nicht hindert.

Folgende Fragen stellen sich mir:

Was hält die Kette zusammen?
Wie funktioniert der Signalweg der Information an die Spitze der Kette, dass die Kette unterbrochen ist?
Ist es Zufall, welche Raupe aus der Geschwisterfamilie die Führung der Kette übernimmt und damit wohl auch  die Richtung der Prozession bestimmt?

Weiß jemand aus der Gemeinschaft Antworten auf diese Fragen?

Viele Grüße

Jürgen

Stephan Hiller

#1
Hallo Jürgen,

interessante Boeobachtung die du da gemacht hast.

Ich habe gelesen dass bei Prozessionsspinnerraupen ein dünner Gespinstfaden der von der vorderen Raupe initial gesponnen wird und von den dahinter laufenden Raupen dann "wahrgenommen" wird und eventuell durch weitere Fäden der Nachfolger ergänzt wird für die kolonnenformige  Ausrichtung der "Prozession" sorgt.
Beim Wegschieben einer Raube aus der Mitte der Prozession hast du möglicherweise diesen dünnen kaum sichtbaren Faden zerrissen, was dazu geführt hat dass das hintere Ende der Prozession erst mühsam wieder einen Anschluss finden musste.

Warum die Prozession sofort stehen blieb als du ein Idividuum aus der Kette entfernt hast könnte damit erklärt werden, dass es einen ungewöhnlichen Ruck am Leitgespinstfaden gab und das als ein Warnsignal von allen Mitgliedern der Prozession empfunden wurde - vielleicht - ich weiss nicht ob das die richtige Interpretation ist.

Von Jean-Henri Fabre dem großen Entomolgen aus Frankreich gibt es ein interessantes Experiment, wo er eine Prozessionsspinneraupengruppe auf einen Blumentopfrand "verpflanzt" hat und sie dort bis zur Totalerschöpfung im Kreis hat laufen lassen. Das Buch in dem dieses Experiment beschrieben ist heisst "Das offenbare Geheimnis" es ist sehr lesenswert und bei Amazon immer noch erhältlich auch als preiswertes Taschenbuch.

Auf deine Letzte Frage würde ich sagen ja.

Grüße

Stephan Hiller


Jürgen H.

Lieber Stephan,

herzlichen Dank für Deinen Hinweis auf Jean Henri Fabre! Seine Beschreibung des Pinienprozessionsspinners und des Experimentes, das Du erwähnst, habe ich hier, allerdings auf Englisch, gefunden und werde sie heute, sicher mit Genuss durchlesen: Immerhin war Fabre, als Naturwissenschaftler!, ja sogar einmal für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen, den dann Gerhart Hauptmann erhalten hat.

http://www.efabre.net/chapter-iii-the-pine-processionary-the-procession

Mittlerweile habe ich im Netz zwei neuere Untersuchungen gefunden, die eine andere Erklärung für das Zusammenhängen der Prozession liefern und auch einen Hinweis darauf geben, warum bei mir der vordere Teil der Kette stehen geblieben ist, nachdem ich die Kette unterbrochen habe: Offenbar besitzen die Raupen am Ende des Abdomens Sinneshaare, die durch den Kopf der folgenden Raupe stimuliert werden und die die vordere Raupe zum Weiterlaufen anregen, solange sie die Bewegungen des Kopfs der hinteren Raupe an ihren Sinneshaaren spürt.. Allerdings gibt es ja immer eine letzte Raupe, wenn sie nicht, wie bei Fabre, im Kreis laufen....

Einmal diese hier zum Pinienprozessionsspinner

https://link.springer.com/article/10.1023/A:1022875102682

Und zum zweiten diese hier zum Prozessionsverhalten einer anderen Art:

http://www.bio-nica.info/biblioteca/Fitzgerald2004Phelypera.pdf

Hat jemand vielleicht Zugang zum kompletten ersten Artikel und kann ihn mir per pdf schicken?

Weibliche Raupen sind offenbar häufiger Anführer der Prozession als männliche, warum auch immer....

Viele Grüße

Jürgen






SNoK

Lieber Jürgen, lieber Stephan,

wo hier Fabre erwähnt wird, muss ich mich melden. Ich habe gerade eine Biographie auf Deutsch über Jean-Henri Fabre geschrieben, die im September oder Oktober erscheint. Darin taucht natürlich auch der Kiefernprozessionsspinner auf. Allerdings nicht mit Antworten auf die hier gestellten Fragen. Was den Nobelpreis angeht, hat ihn Maurice Maeterlinck 1911 erhalten, dem Jahr, für das Fabre vorgeschlagen war. Maeterlinck hatte sogar Fabres Kandidatur mit unterstützt. Hauptmann hat den Preis ein Jahr später, 1912, erhalten.

Von Fabre gibt es inzwischen eine komplette Übersetzung der ,,Souvenirs Entomologiques". Der zehnte und letzte Band ist 2020 im Verlag Matthes & Seitz erschienen. Allerdings ziemlich teuer, 38 Euro pro Band. Mein Buch wird im Hirzel Verlag erscheinen.

Fabre war ohne Frage ein faszinierender Mann, der seine Anerkennung leider erst im hohen Alter erhielt.

Viele Grüße
Stephan
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Jürgen H.

Lieber Stephan,

da möchte ich doch gerne nachfragen:Fabre sei als Preisträger des Litnobelpreises für das Jahr 1911 und nicht für 1912 vorgeschlagen worden? Als Biograph hast Du bestimmt eine zuverlässigere Quelle als ich. Meine beruht nur auf einem Zitat aus ,,Kleine Geschichte der Zuerkennung des Nobelpreises an Gerhard Hauptmann von Dr. Gunnar Ahlström", das sich in Provencalische Erinnerungen, herausgegeben von Wittmann findet. Vermutlich also ein Fehlzitat. Wirklich wichtig ist die Jahreszahl natürlich nicht. Aber mich würde die Geschichte dahinter schon interessieren. Ich nehme an, Du hast etwas dazu in Deinem Buch geschrieben?

Wie schön, dass Du etwas zu Fabres Lebensgeschichte veröffentlichst. Die oben verlinkte Untersuchung von Fabre zum Prozessionsspinner habe ich mit Freude gelesen.

Viele Grüße

Jürgen

beamish

#5
Nach der offiziellen Website des Nobel Prize wurde Fabre 1912 und 1914 für den Literatur Nobel Preis nominiert:
https://www.nobelprize.org/nomination/archive/show_people.php?id=2885

Grüße
Martin

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SNoK

Lieber Jürgen,

danke für den Hinweis. Diese Fußnote hatte ich nicht gesehen, denn im Original der Biografie von Legros gibt es sie nicht. In den drei letzten Französischen Biografien von Y. Delange (1999), P. Tort (2002) und A. Delage (2005) ist jeweils das Jahr 1911 genannt, und Tort, der eigentlich sehr genau recherchiert hat, gibt dann Maeterlinck als Nobelpreisträger an. Darauf habe ich mich bezogen. Im Mai 1911 erschien in der Zeitung ,,Excelsior" auch ein Artikel mit der Überschrift: ,,Gebt den Nobelpreis an den Wissenschaftler Fabre". Der Literaturnobelpreisträger wird immer im Dezember verliehen. Also ging ich davon aus, wie die anderen Biografen, dass Fabre 1911 vorgeschlagen wurde. Ob er 1911 gar nicht formell vorgeschlagen wurde, dafür aber 1912, kann ich leider nicht rausbekommen, da ich das von Wittmann angegebene Buch nicht habe. Die anderen Biografen haben davon nichts geschrieben. Da ich mein Manuskript in spätestens drei Tagen abgeben muss, kann ich es auch nicht mehr hinbekommen. Aber vielleicht kann ich das noch nährend des Lektorats machen. Insgesamt muss man sagen, dass man sich über die Fabre-Forschung in Frankreich die Haare raufen kann. Es sind zu wenige gewesen, die an ihm Interesse hatten, und die waren auch zum Teil sehr ungenau. Aber nochmals danke für Hinweis.

Grüße
Stephan
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SNoK

#7
Lieber Martín,

das ist total spannend. Ich werde das morgen noch in mein Manuskript einfügen. Vermutlich gab es 1911 den Rummel in Frankreich, aber niemand hat Fabre formell vorgeschlagen. Aber Maeterlinck und Mistral sind als Unterstützer genannt. Offenbar haben die ihn dann doch erst 1912 vorgeschlagen, und keiner der bisherigen Biografen hat das gemerkt. Auch ich nicht. Aber ich habe in den bisherigen Biografien so viele Fehler und Ungenauigkeiten gefunden, dass ich über ein Jahr immer wieder damit beschäftigt war. Vermutlich könnte ich noch ein Jahr weitermachen. Aber jetzt reicht es auch.

Grüße
Stephan

P. S.: Aber auch auf der Nominierungsliste ist ein Fehler, Fabre hieß Henri, nicht Henry.
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beamish

#8
Lieber Stephan,

der Henry mag daran liegen, daß die Übersetzungen seiner Werke auch unter Jean-Henry erschienen:
z.B.: https://ia800606.us.archive.org/view_archive.php?archive=/14/items/olcovers592/olcovers592-L.zip&file=5927145-L.jpg

Grüße
Martin
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jcs

Zitat von: SNoK in Januar 28, 2023, 20:52:50 NACHMITTAGS
Aber Maeterlinck und Mistral sind als Unterstützer genannt. Offenbar haben die ihn dann doch erst 1912 vorgeschlagen, und keiner der bisherigen Biografen hat das gemerkt.
Es kann natürlich auch sein, dass er im Jahr 1911 für den Nobelpreis 1912 vorgeschlagen wurde. Zumindest nach den heutigen Regeln wäre das sowieso recht wahrscheinlich, da die Deadline für eine Einreichung des jeweiligen Jahres bereits am 31.1. dieses Jahres ist.

LG
Jürgen

SNoK

Lieber Jürgen (jcs),

so könnte es gewesen sein, er wurde 1911 für 1912 vorgeschlagen. Ob sich das auch noch rausbekommen lässt? Aber Tort (2002) irrt dann auf jeden Fall, weil er meint, Maeterlinck hatte den Preis anstelle Fabres bekommen. Und Tort ist eigentlich der pingeligste Biograf. Schon toll, wofür das Forum alles gut ist. Ich habe mein Manuskript übrigens schon geändert. Noch geht es.

Grüße
Stephan
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Jürgen H.

Lieber Stephan, wenn Maeterlinck es unterstützt hat, dass Fabre den Literaturnobelpreis erhält, wie Du schreibst, so wird er das getan haben, indem er sein mit seinem eigenen Nobelpreis erworbenes Vorschlagsrecht ausgeübt hat, so denke ich mir es jedenfalls.

Danke für Deinen Bericht, ich darf gespannt sein auf Deine Biographie!

Viele Grüße

Jürgen

SNoK

Lieber Jürgen,

auf der Nominierungsseite steht Maeterlinck schon mit seinem Nobelpreis. Verkündet wurde der im Oktober 1911, aber überreicht erst im Dezember. Insofern kann es doch sein, dass die Nominierung Fabres erst im Januar 1912 erfolgte.

Grüße
Stephan
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beamish

Ich verstehe die Nobel Webseite so, daß Fabre für den Literaturnobelpreis für das Jahr 1912 und das Jahr 1914 nominiert wurde. Alles andere macht auch informationsmäßig keinen Sinn.

Grüße
Martin
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SNoK

Lieber Marin,

so ist es wohl. Fabre wurde für 1912 von verschiedenen Leuten vorgeschlagen und für 1914, aus welchen Gründen auch immer, noch mal von einem Schweden. Der Preis 1914 wurde, vermutlich wegen des Ausbruchs des 1. Weltkriegs, nicht vergeben.

Grüße
Stephan
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